23. November 2024

Propaganda verfängt

Übernommen von Unsere Zeit:

Die Angriffe auf die Empfänger von staatlichen Transferleistungen reißen nicht ab. Nach der Debatte um schärfere Sanktionen für sogenannte „Totalverweigerer“ rüttelt die FDP nun an der Höhe des Bürgergelds für alle Bezieher. Alleinstehende Bürgergeld­empfänger erhalten aktuell 563 Euro im Monat. Zu viel, findet deren Fraktionschef Christian Dürr. Angesichts der Inflationsentwicklung falle das Bürgergeld „aktuell 14 bis 20 Euro im Monat zu hoch aus“, sagte er in der vergangenen Woche der „Bild-Zeitung“. „Mein Vorschlag wäre eine Anpassung nach unten, weil bei der letzten Berechnung die Inflation höher eingeschätzt wurde, als sie sich tatsächlich entwickelt hat. Das würde sowohl die Steuerzahler um bis zu 850 Millionen Euro entlasten als auch die Arbeitsanreize erhöhen“, so der FDP-Politiker.

Zuvor hatte bereits Christian Lindner im „ARD-Sommerinterview“ die für Januar 2025 vorgesehene Erhöhung der Regelsätze in Frage gestellt. Im nächsten Jahr werde es eine Nullrunde beim Bürgergeld geben, sagte der Finanzminister. „Es wird nicht erhöht, während die arbeitende Bevölkerung bei der Lohn- und Einkommensteuer entlastet wird. Das vergrößert den Abstand wieder, auch das erwartet die Bevölkerung.“

Wer bei diesem billigen Gegeneinanderausspielen von Erwerbstätigen und Bürgergeldempfängern auf entschlossenen Widerstand des sich sozialdemokratisch nennenden Koalitionspartners hofft, wird enttäuscht. „Wir rechnen im Moment damit, dass angesichts der jetzt rückläufigen Preissteigerungsraten wahrscheinlich nach jetziger Lage zum 1. Januar 2025 es auch sein kann, dass es keine Erhöhung geben wird“, war von einer Sprecherin des SPD-geführten Arbeitsministeriums schon Ende Juli zu hören.

Die immer wieder aufgewärmten Legenden vom vermeintlichen „massenhaften Missbrauch von Sozialleistungen“ und den „sich in der sozialen Hängematte ausruhenden Leistungsempfängern“ dienen hier als Legitimation für die Stimmungsmache gegen Hilfsbedürftige. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Behauptungen sowohl vom Institut für Arbeitsmarkt und Sozialforschung der Bundesagentur für Arbeit als auch von dem sicher nicht für seine Gewerkschaftsnähe bekannten ifo-Institut übereinstimmend als unzutreffend beurteilt wurden. Dennoch prägen sie weiterhin die öffentliche Meinung und finden in politischen, medialen und Alltagsdiskursen einen fruchtbaren Resonanzboden.

Selbst unter den Betroffenen der neoliberalen Hetze verfängt die Propaganda. Dies belegt eine Publikation des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI). Das gewerkschaftsnahe Institut hat dort kürzlich darauf hingewiesen, dass viele potenzielle Leistungsbezieher trotz vorliegender formaler Bedürftigkeit Sozialleistungen gar nicht in Anspruch nehmen. Für die Grundsicherung im Alter wird die Quote auf etwa 60 Prozent der Haushalte geschätzt. Beim Arbeitslosengeld II beziehungsweise dem heutigen Bürgergeld liegen die Schätzungen bei über einem Drittel Nicht-Nutzung. Noch höher sind die Werte beim „Bildungs- und Teilhabepaket“ für Kinder mit 85 Prozent.

Die Gründe für eine Nicht-Beantragung sind nach Auffassung des WSI vielschichtig. Fehlendes oder unzureichendes Wissen über die eigene Anspruchsberechtigung, bürokratische Hürden oder negative Erfahrungen mit den zuständigen Stellen werden hier genannt. Neben diesen Aspekten spielt aber auch die neoliberale Stigmatisierung von Armut und Hilfsbedürftigkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. „Bei den interviewten Personen liegt mehrheitlich ein Verständnis von Bedürftigkeit zugrunde, das unter anderem durch das gesellschaftliche Ideal der Eigenverantwortung sowie durch das Aktivitäts- und Mitwirkungsparadigma der Sozialpolitik geprägt wurde“, so die Studie. Diesem neoliberalen Dogma folgend, gilt individuelle Bedürftigkeit als grundsätzlich durch ausreichend Eigeninitiative und Selbstverantwortlichkeit und zum Wohle der Gesamtgesellschaft „vermeidbar“ und „überwindbar“. Mit anderen Worten: Die Armen sind an ihrem Elend selbst schuld.

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit