30. Dezember 2024

Die »Blaue Linie« brennt

Übernommen von Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek:

Die »Blaue Linie« brennt. Am Sonntagmorgen eskalierte der militärische Schlagabtausch zwischen Israel und dem Islamischen Widerstand, einem Bündnis um die libanesische Hisbollah. Israelischen Medien zufolge sollen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Kriegsminister Yoav Gallant persönlich den Angriff beaufsichtigt haben. Die Flughäfen in Tel Aviv und Beirut setzten vorübergehend alle Flüge aus.

Die Israelische Armee erklärte, sie habe basierend auf Informationen des militärischen Geheimdienstes, einen »Präventivangriff« gegen den Süden des Libanon ausgeführt, um einen »unmittelbar bevorstehenden« Angriff der libanesischen Hisbollah zu vereiteln. Mehr als 100 israelische Kampfjets hätten Raketenabschußrampen in südlibanesischen Dörfern zerstört, erklärte ein Sprecher der Israelischen Armee. Der Angriff sei um 5 Uhr morgens erfolgt. Die »Terrorgruppe« habe daraufhin »zur Vergeltung« Hunderte von Raketen auf Israel gefeuert. Dabei seien Akko (Acre) und andere Orte im Norden Israels von Raketen getroffen worden. In Akko sei vorübergehend der Strom ausgefallen. Das israelische Sicherheitskabinett werde beraten.

Die libanesische Hisbollah erklärte etwa zeitgleich, man habe mit der »vorläufigen Vergeltung« gegen den »israelischen Feind« begonnen, der Ende Juni mit einem »brutalen Angriff auf Südbeirut« den »großen dschihadistischen Kommandanten Sayyed Fouad Shokr und Zivilisten, darunter Frauen und Kinder getötet« habe. Die Luftoperation richte sich gegen das Zentrum Israels und gegen ein wichtiges israelisches militärisches Ziel, vorüber »später mehr berichtet« werden solle. Sollten die Zionisten als Reaktion Zivilisten im Libanon töten, werde man »hart reagieren«. Bei dem Angriff seien 11 israelische Kasernen und Stützpunkte zur Raketenabwehr zerstört worden, so die Hisbollah, die in ihrer schriftlichen Erklärung die Kasernen und Stützpunkte im Norden von Israel und auf den besetzten syrischen Golan Höhen auflistete.

Bei dem Angriff seien mehr als 320 Katjuscha-Raketen abgefeuert worden, die das israelische Raketenabwehrsystem »Iron Dome« beschäftigt hätten. Das habe sichergestellt, daß ein ebenfalls abgefeuerter Schwarm von Drohnen seine jeweiligen Ziele erreicht habe. Am Vormittag hieß es, »die erste Phase der Vergeltung« sei »abgeschlossen«, die Ergebnisse des Angriffs würden geprüft. Für Sonntagabend wurde eine Rede von Hassan Nasrallah angekündigt, den Generalsekretär der Hisbollah.

In einer offiziellen schriftlichen Erklärung am Sonntagnachmittag teilte die Hisbollah gegenüber Medien mit, die Organisation habe den Vergeltungsschlag für den Mord an Fouad Shokr aus »politischen Erwägungen« hinausgezögert, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters. Konkret wurden die laufenden Gespräche für einen Waffenstillstand im Gazastreifen und die Freilassung von israelischen und palästinensischen Gefangenen genannt. Zudem habe die Hisbollah »daran gearbeitet«, mit ihrer Reaktion auf den Mord an Fouad Shukr keinen regionalen Krieg auszulösen.

USA als Kriegspartei

Seit der Ermordung eines hochrangigen Offiziellen der libanesischen Hisbollah am 30. Juli in Beirut und von Ismail Haniyeh, Vorsitzender der Hamas und leitender Verhandlungsführer im Iran am 31. Juli rechnete Israel mit einem Vergeltungsschlag. Für die Ermordung von Fouad Shokr, dem ranghöchsten militärischen Führer der Hisbollah, hatte die israelische Armee sofort die Verantwortung übernommen. Die Ermordung Haniyehs nur wenige Stunden später geht vermutlich auf das Konto des Mossad. Geheimdienste der USA dürften den Mossad-Agenten geholfen haben, den Angriff im Norden Teherans durchzuführen.

Bereits am Samstag war der Oberkommandierende der USA-Streitkräfte, Luftwaffen-General C.Q. Brown in Amman eingetroffen, um »darüber zu diskutieren, wie eine neue Eskalation und weitere Spannungen in der Region verhindert« werden könnten. die zu einem »breiten Konflikt« in der Region führen könnten. Auch Ägypten und Israel stehen auf seinem Reiseplan. Offiziell setzen sich die USA für einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen ein, was zu einer Beruhigung der gesamtgefährlichen Lage in der Region führen könnte, erklärte Brown gegenüber Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters, die den General begleiteten.

Die USA haben zu Land, in der Luft und zur See einen hochexplosiven Verteidigungsring um Israel gezogen, um im Falle eines Angriffs auf Israel das Land zu verteidigen. USA-Präsident Joe Biden hat der israelischen Regierung zudem auch für 2026, also nach dem Ende seiner Amtszeit, weitere Waffen und Munition im Wert von 20 Milliarden US-Dollar zugesagt.

Der aus Jordanien stammende Journalist Rami Khouri sagte gegenüber dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera, die USA fielen als Vermittler für einen Waffenstillstand in Gaza aus. Die einseitige Parteinahme und vor allem die anhaltende militärische Aufrüstung Israels durch die USA schlössen eine Vermittlerrolle für die USA aus.

Hisbollah erklärt den Angriff…

Der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah wandte sich am Sonntagabend über den Fernsehsender Al Manar an die Öffentlichkeit und erklärte die militärische Operation. Der Angriff sei »die erste Phase der Vergeltung« für den Mord Israels an Fouad Shukr; je nach Reaktion Israels werde ein weiterer Angriff folgen. Man werde verantwortlich arbeiten, um eine Ausweitung des Krieges zu vermeiden, betonte Nasrallah.

Man habe den Angriff aus verschiedenen Gründen hinausgezögert, sagte Nasrallah und nannte als einen Grund die laufenden Verhandlungen für einen Waffenstillstand in Gaza. Ein weiterer Grund sei gewesen, daß die Kräfte der »Achse des Widerstandes« – Hisbollah, Ansar Allah/Houthi Bewegung, Islamischer Widerstand Irak und Iran – abstimmen mußten, ob eine gemeinsame Vergeltung für den Mord an Shokr und den Mord an Ismail Haniyeh erfolgen sollte, oder ob die einzelnen Akteure entsprechend ihrer jeweiligen Situation getrennt operieren sollten.

Zudem habe man sich die Zeit genommen, um die militärischen Vorbereitungen Israels und der USA zu verfolgen und schließlich habe die Verzögerung und das Warten auf die militärische Vergeltung sich »negativ auf Israel und seine Wirtschaftslage« ausgewirkt.

Ausführlich ging Nasrallah auf die angegriffenen Ziele ein. Es habe sich ausschließlich um militärische und geheimdienstliche Ziele gehandelt, zivile Infrastruktur und Zivilisten seien absichtlich verschont worden. Als zwei zentrale Ziele weit im Inneren Israels nannte Nasrallah die Militärbasis Glilot vor den Toren von Tel Aviv und den Stützpunkt »Ein Shemya«, der etwa 40 Kilometer von Tel Aviv und 75 Kilometer von der »Blauen Linie« entfernt liegt. Bisher hatten sich die Angriffe der Hisbollah lediglich auf militärische und geheimdienstliche Ziele im Norden Israels und auf den völkerrechtswidrig von Israel besetzten syrischen Golan-Höhen konzentriert.

Die Basis Glilot liegt 110 Kilometer von der »Blauen Linie« entfernt und gilt als Stützpunkt des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad und der »Einheit 8200« des israelischen Militärgeheimdienstes, der für »die Durchführung politischer Morde verantwortlich« sei, sagte Nasrallah. Das sei der Grund, warum man dieses Ziel ausgewählt habe, Glilot und Shemya seien »direkt in die Mordoperationen involviert« gewesen. Alle Drohnen hätten ihre Ziele erreicht, »was der Feind verschweigt«, so Nasrallah. Man habe keine ballistischen Raketen eingesetzt, schließe aber deren Einsatz für die Zukunft nicht aus.

Die Angaben Israels, wonach 100 Kampfjets »tausende Raketen und Abschußrampen« im Südlibanon vor Beginn des Angriffs zerstört hätten, wies Hassan Nasrallah zurück. Die israelische Luftwaffe habe leere Stellungen bombardiert, die von der Hisbollah schon vor Wochen geräumt worden seien. Zudem habe man lediglich 340 Katjuscha-Raketen und Drohnen eingesetzt. Allerdings sei man gewohnt, daß der Feind die Erfolge der Hisbollah verschweige oder klein rede und über die eigenen Operationen Unwahrheiten verbreite.

Doch Israel müsse verstehen, daß der Libanon sich verändert habe. Der Libanon sei nicht länger schwach und könne nicht länger einfach unterworfen werden, so Nasrallah. Unter Verweis auf eine Aussage des israelischen Generals Moshe Dayan, der in den 1970er Jahren gesagt hatte, daß die Musikkapelle der israelischen Armee in den Libanon einmarschieren und das Land besetzen könne, meinte Nasrallah: »Es könnte der Tag kommen, an dem wir bei Euch mit einer Musikkapelle einmarschieren.«

Der Krieg in Gaza geht weiter

Erneut betonte Nasrallah, daß die militärischen Operationen gegen Israel und alle Operationen der »Achse des Widerstandes« das Ziel hätten, den Krieg in Gaza zu stoppen. Darum habe man abgewartet, ob die Verhandlungen für einen Waffenstillstand in Kairo zu einem Ergebnis führen würden. Doch die USA hätten lediglich auf Zeit gespielt und seien – wie Israel – nicht an einem Waffenstillstand in Gaza interessiert. Darum würden die Operationen zur Unterstützung der Palästinenser und des Widerstandes in Gaza fortgesetzt, bis ein Waffenstillstand erreicht sei, sagte Nasrallah.

Die Gespräche in der ägyptischen Hauptstadt Kairo über eine Waffenruhe waren erneut ergebnislos geblieben. Die israelische Delegation reiste schon nach wenigen Stunden wieder ab, wie aus Kreisen am Flughafen von Kairo verlautete. Auch Katars Emir Tamim bin Hamad Al Thani und die Vertreter der Hamas verließen die Stadt wieder. Es gebe eine »schwierige Pattsituation«, wurde der Deutschen Presse-Agentur aus ägyptischen Sicherheitskreisen berichtet.

Die Hamas verweist auf ihre Zustimmung zu einem Vorschlag in drei Stufen von Anfang Mai, der von USA-Präsident Joe Biden vorgelegt und vom UNO-Sicherheitsrat als Resolution verabschiedet worden war. Israel legte jedoch danach immer neue Forderungen vor und weigert sich, dem kompletten Abzug seiner Truppen aus dem Gaza-Streifen, die Freigabe des Grenzübergangs Rafah nach Ägypten und der Freigabe des Philadelphi-Korridors zwischen Ägypten und dem Gazastreifen zuzustimmen, wie es die Resolution des UNO-Sicherheitsrates vorsieht. Selbst in der israelischen Verhandlungsdelegation sieht man vor allem Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als den Verantwortlichen dafür, daß die Verhandlungen seit Mai nicht vorangekommen sind.

Polio-Impfstoff für den Gazastreifen

Unterdessen sind nach Warnungen vor einem massiven Polio-Ausbruch Impfstoffe gegen die Krankheit in den angegriffenen Gazastreifen gebracht worden. Es seien Impfstoffe für 1,25 Millionen Menschen über den Grenzübergang Kerem Schalom in den Küstenstreifen transportiert worden, teilte die für Palästinenserangelegenheiten zuständige israelische Behörde Cogat mit.

»In den kommenden Tagen werden internationale und örtliche medizinische Teams an verschiedenen Orten im Gazastreifen bisher ungeimpfte Kinder gegen Polio impfen«, hieß es in der Mitteilung. UNO-Vertreter hatten gefordert, eine Feuerpause für Polio-Impfungen für Hunderttausende Kinder in dem Kriegsgebiet zu ermöglichen.

Der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, hatte sich am Freitag bei X sehr besorgt über den Fall eines zehn Monate alten Babys geäußert. Bei dem Kind aus Deir al-Balah im Zentrum Gazas habe es die erste bestätigte Polio-Diagnose im Gazastreifen seit 25 Jahren gegeben. Angesichts des hohen Ansteckungsrisikos strebten das palästinensische Gesundheitsministerium, die WHO und die UNICEF zwei Impfrunden in den nächsten Wochen an.

Der Sonntag markierte den 324. Tag des Gaza-Krieges. Das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza gab die Zahl der getöteten Palästinenser am Sonntag mit 40.405 an, die Verletzten stieg auf 93.356. Tausende weitere Opfer werden unter den Trümmern der von Israels Truppen zerbombten Gebäude vermutet.

Allein am Wochenende wurden 71 Personen getötet, die israelischen Streitkräfte verschärften ihre Bombardierungen im Gazastreifen erneut und forderten wieder einmal die Bevölkerung auf, zuvor als humanitäre Zonen deklarierte Gebiete zu verlassen. Berichten zufolge stehen den Palästinensern im Gazastreifen nur noch 10 Prozent des gesamten Küstenstreifens als »sichere Gebiete« zur Verfügung.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

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