19. November 2024

Taschenrechner raus!

Übernommen von Unsere Zeit:

Bei den Ampel-Parteien, der CDU und den angeschlossenen Medienanstalten geht die Angst um: Staatskrise, drohende Unregierbarkeit, Erpressung der Mehrheit durch die Minderheit – alles nur wegen der Sperrminorität. Und das liegt nicht nur am Stimmenanteil der AfD in Thüringen, sondern vor allem an der Sorge vor dem Unaussprechlichen: Durch den Zerfall der bisherigen Parteienlandschaft könnten Entscheidungen, für die es eine Zweidrittelmehrheit braucht, von der Opposition blockiert werden.

Dazu gehört auch die Wahl von Verfassungsrichtern. Der Deutsche Richterbund (DRB) entdeckt dank dieser Aussicht ein Phänomen, das es in der Wahrnehmung der Berufsjuristen bisher anscheinend nicht gegeben hat: den „politischen Durchgriff“ der Parteien auf die Justiz. Das in 75 Jahren Bundesrepublik gewachsene „Bollwerk der Demokratie“ sei gefährdet. DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn mahnte die Bundesländer an, schleunigst Maßnahmen zu ergreifen, damit sich Thüringer Verhältnisse nicht andernorts wiederholen. Rebehns Kollegen aus der Anwaltschaft hatten bereits am 15. März dieses Jahres im „Anwaltsblatt“ in grellen Farben vor Blockaden gewarnt. Minderheiten in Bundes- und Länderparlamenten seien künftig in der Lage, Verfassungsgerichte „auszuschalten“.

Über Jahrzehnte wurde ein trautes Tête-à-tête praktiziert: Die etablierten bürgerlichen Parteien suchten sich nach Proporz genehme Richterkandidaten aus und ebneten ihnen den Weg ins Amt. Dort angekommen, zahlten die Richter das in sie gesetzte Vertrauen mit treuer Münze zurück. Diese Praxis scheint nun bedroht. Längst geht es nicht mehr um die AfD. Deren Wahlerfolge sind nur Anlass, aber nicht der Grund, der den Verfassungsjuristen Sorgenfalten auf die Stirn zaubert. Die Gefolgschaft für den geplanten Ostlandritt bröckelt, nachdem mit dem „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) auch der „verlängerte Arm des Kreml“ (CDU-Scharfmacher Roderich Kiesewetter) zweistellig in die Landesparlamente von Sachsen und Thüringen eingezogen ist.

Doch die Sorgen erschöpfen sich nicht in der Berufung von Richtern. Seit 1953 wird bundesweit mit der „5-Prozent-Hürde“ dafür gesorgt, dass die Arithmetik stimmt und unbequeme Fragesteller außerhalb des Parlaments bleiben. Innerhalb dient das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit dazu, exklusive Mehrheiten über Fragen entscheiden zu lassen, die den Kurs des Staatsschiffs bestimmen. Ging es um Wiederbewaffnung, NATO-Beitritt, Notstandsgesetze, „Asylreform“, Beteiligung an Kriegen aus transatlantischer Verbundenheit, die Annexion der DDR oder fast siebzig andere Änderungen des Grundgesetzes, fanden sich die erforderlichen Mehrheiten stets unproblematisch. Das könnte sich beim erneuten Streben nach Kriegstüchtigkeit ändern.

Aber auch Alternativen sind längst erprobt: Vorhaben werden der Einfachheit halber ohne Parlament auf den Weg gebracht, wie zuletzt die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland. Schon während der Corona-Pandemie erwies sich, dass die Parlamente hinter der außer Rand und Band geratenen Exekutive willfährig ins zweite Glied treten. Die Innenministerin führt seit einem Jahr vor, was durch einfache Rechtsverordnungen an Demokratieabbau möglich ist. Vor diesem Hintergrund mutet die hektische Debatte um die Sperrminorität eher lächerlich an.

Gleichwohl steht zu erwarten, dass sich die juristischen Hilfstruppen in Bund und Ländern in den kommenden Monaten mit den Forderungen des Richterbundes nach Präventivgesetzen zum Schutz vor Sperrminoritäten beschäftigen werden. Der gesetzgeberischen Fantasie sind durch die Grundrechenarten engste Grenzen gesetzt. Die Zweidrittelmarke muss abgesenkt werden, gleichzeitig darf es nicht auf weniger als 51 Prozent hinauslaufen. Aber auch irgendein Wert dazwischen wird die parlamentarische Ruhe wahrscheinlich nur auf Zeit retten.

Quelle: Unsere Zeit

UZ - Unsere Zeit