Viele ganz normale Bürger halfen beim Morden
Vor zehn Jahren hat das Internationale Rombergparkkomitee das Buch „Mörderisches Finale“ über die Kriegsendphasenverbrechen herausgegeben. Es wurden zahlreiche Tatorte von Todesmärschen und Gestapo-Morden an Insassen von Haftanstalten kurz vor Kriegsende dokumentiert. Es war das erste Buch dieser Art und erst danach nahm sich die Historikerzunft des Themas an. Dabei handelt es sich um den letzten Abschnitt des Wirkens des NS-Mordregimes. Das Motiv für dieses Massenverbrechen im Frühjahr 1945 mit geschätzt 700.000 Todesopfern (Winter nennt eine geringere Zahl) wird in den Publikationen unterschiedlich dargestellt. Die Geschichtsinitiativen – auch die aus der VVN-BdA – sahen das Motiv vor allem in der Absicht, möglichst keine Antifaschisten zur Gestaltung eines demokratischen Nachkriegsdeutschlands übrig zu lassen. Zudem: Kurzfristig erschien dem NS-Regime die Möglichkeit gegeben, einen Seitenwechsel der Westmächte zu erreichen, so dass sich diese mit den Resten der Nazitruppen gegen die Rote Armee wenden sollten. Dabei wären die KZ-Insassen, die befreiten Zwangsarbeiter und die deutschen Nazigegner höchst störend gewesen.
Ein weiteres Motiv, und zwar das vieler Deutscher, wird von Martin Clemens Winter untersucht. In seinem jetzt vorgelegten Werk „Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum – Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche“ sieht er große Massen der kleinen Leute, der Hitlerjugend und des Volkssturms unter Führung örtlicher NSDAP-Größen als Mordgehilfen der SS. Da er deren Anteil an den Verbrechen überzeugend nachweist, wird erschreckend und mehr als bisher erkennbar, mit welchen Leuten wir es in den Jahren nach 1945 zu tun hatten. Es waren unsere lieben Nachbarn, von denen viele von der Frage getrieben handelten: Wenn die ehemaligen Gefangenen nun uns das antun was wir ihnen und ihren Landsleuten antaten – dann gnade uns Gott. So kam es zu regelrechten Massakern, zu „Hasenjagden“ – wie sie genannt wurden – seitens der Zivilbevölkerung. KZ-Insassen, die sich von der untergehenden „Kap Arkona“ an die Ostseekürste retteten, wurden von braven Landleuten wieder ins Meer zurückgetrieben. Die kleinen Leute halfen dabei, Scheunen mit eingepferchten Todesmarschierern abzubrennen. Aus Waggons Entkommene wieder einzufangen. Wer sich flehentlich an Dörfler wandte, wurde oftmals von der Schwelle gewiesen. Wer den Elenden half, konnte Gefahr laufen, bei der SS und Gestapo denunziert zu werden.
Doch es gab auch die anderen Deutschen, aber sie waren in der Minderheit. Es gab diejenigen, die die erschöpften auf den Stufen ihres Hauses Sitzenden ins Haus zogen, zu essen und zu trinken gaben und sie versteckten.
Die Studie von Martin C. Winter – es war seine Dissertation – behandelt auch die Nachgeschichte der Massenverbrechen von 1945 vor der Haustür der Bevölkerung. Er berichtet über die zumeist gescheiterte juristische Ahndung durch die alliierte und deutsche Justiz. Die Erinnerungsarbeit der Opferverbände, auch der VVN, setzte früh ein, jene der Behörden und Bildungseinrichtungen sehr spät. So war es in der BRD. In beiden deutschen Staaten blieb die Mitschuld der kleinen Leute zumeist unbeachtet. In der Erinnerungsarbeit an die Todesmärsche lag allerdings die DDR vorn, das geht aus der Studie hervor. Betont wurde dort die Rolle der helfenden Antifaschisten – wenn es die gab, und es gab sie. Freie Deutsche Jugend und Junge Pioniere, ganze Schulen, gingen den Weg der Todesmärsche nach, legten Blumen nieder wo der Staat Gedenksteine errichtet hatte. Sie schrieben Gedenkbücher und sprachen mit jenen, die nun alt waren, in ihrer Jugend aber Solidarität organisierten. Eine solche freundliche Behandlung des Themas „verordneter Antifaschismus“ war bisher unbekannt.
Egon Krenz, der ehemalige Pionier- und FDJ-Vorsitzende, resümierte in einer Mail an unsere Redaktion: „Die Todesmärsche spielten in der Pflege der antifaschistischen Traditionen der DDR eine sehr große Rolle. Die FDJ und ihre Pionierorganisation haben da viele und vielfältige Ideen verwirklicht.“
Die Historikerin Barbara Distel, ehemalige Gedenkstättenleiterin in Dachau, wünscht sich eine breite Rezeption der Studie von Martin C. Winter. Sie sei ein äußerst lesenswertes Lehrstück über unsre Vergangenheit, über die Sozialgeschichte der Deutschen besonders im ländlichen Raum.
Wer sich die Schilderung der Grausamkeiten nicht antun und sie nicht in seinem Buchregal sehen will – und das ist nur zu verständlich -, dem sei geraten zu veranlassen, dass das Buch in Schul- und Stadtteilbibliotheken angeboten wird, auf dass sich geschichtlich Interessierte für ihre Region das Nötige herauskopieren können, um es für die örtliche Erinnerungsarbeit zu verwenden. Doch auch das umfassende Register des Bandes ersetzt nicht die weitere Forschung vor Ort. Winter räumt ein: „Auch nur annähernde Vollständigkeit anzustreben, (war) von vornherein zum Scheitern verurteilt.“ Wenn möglich, so Winter, „versuche ich, auch den Opfern eine Stimme und Identität zu verleihen,“ aber da hier die deutsche Bevölkerung im Mittelpunkt stehe, könne er „keine integrierte Geschichte der Todesmärsche vorlegen.“
Ulrich Sander
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