22. Dezember 2024

Wie verschwand der Imperialismus in Syrien?

Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:

Arif Kosar

Vielleicht hätte es vor 20 Jahren nicht so viel Verwirrung gegeben.

Als zum Beispiel die USA 2003 in den Irak einmarschierten, waren selbst die liberalsten Teile der Linken gegen die Invasion. Der Imperialismus wurde nicht in diesem Ausmaß aus den politischen Analysen ausgeklammert. Selbst in jenen Jahren gab es diejenigen, die die Besetzung des Irak nicht mit dem US-Imperialismus, sondern mit der von Präsident Bush vertretenen republikanischen Rechten erklärten. Andere behaupteten zudem Antiimperialismus sei schüchterner Nationalismus und ließen die AKP eine „demokratische Revolution“ anführen. Aber der Imperialismus blieb immer noch in ihrem Hinterkopf.

Mit Begriffen wie „Globalisierung“, „Imperium“, „Niedergang des Nationalstaates“, „Verschwinden der Grenzen“ wurde der Imperialismus entweder beschönigt oder für verschwunden erklärt. Ein Vierteljahrhundert der liberalen Erosion und des intellektuellen Wirbelsturms hat revolutionäre Demokraten und Weitesten Sinne linke Intellektuelle durchweichen und bröckeln lassen.

Schließlich mischen in Syrien, die USA, Israel, Russland, Iran, Katar und die Türkei persönlich oder indirekt vor Ort mit, dennoch wird über alles gesprochen, außer Imperialismus. Es gibt regionale Mächte, lokale Mächte, sogar globale Mächte, aber der Imperialismus kommt nicht vor.

VERSCHWÖRUNG IM RÜCKWÄRTSGANG

In der Welt, insbesondere in strategischen Regionen wie dem Nahen Osten, ist es unmöglich, die Rivalität und den Kampf zwischen den imperialistischen Mächten nicht zu sehen. Es ist unvermeidlich, dass sich die imperialistische Blockbildung unter der Führung Chinas und Russlands und die imperialistische Blockbildung unter der Führung der USA und des Westens, insbesondere gegen den chinesischen Aufstieg und die „russische Aggression“, in jedem ernsthaften regionalen Problem manifestieren wird. Genau aus diesem Grund war es unvermeidlich, dass diese beiden noch nicht vollständig abgesteckten Blöcke sich in der Ukraine, in Taiwan, Venezuela, Georgien, Armenien, im Irak und natürlich in Syrien gegenüberstehen. Denn der Imperialismus definiert neben dem internen Funktionieren der Weltwirtschaft auch eine politische Weltordnung. Jedes imperialistische Land kämpft um seine politische Souveränität, um diese ebenso zu sichern wie die wirtschaftliche Souveränität auf den Weltmärkten. Es mag unterschiedliche Politiken geben, die sich aus periodischen Veränderungen, Rückzügen, Machtmangel und internen politischen Spannungen ergeben, aber der monopolkapitalistische Mechanismus bedingt diese ständig und fordert damit den Wettbewerb und Konflikte heraus.

Ein Blick auf den Vormarsch der HTS in Syrien seit dem 27. November genügt, um diese imperialistischen Phänomene jenseits der „lokalen“ Kräfte zu erkennen.

Zunächst einmal dürfte es kein Zufall sein, dass der Vormarsch der HTS von Aleppo nach Damaskus im Anschluss daran begann, dass Israel zwei Führer der libanesischen Hisbollah tötete, sie damit fast bewegungsunfähig machte und die Hisbollah ihre Truppen aus Syrien in den Libanon zurückzog.

Es sollte zudem klar sein, dass das Zurückhalten Russlands von seiner Unterstützung für Syrien, aus noch nicht vollständig bekannten Gründen, vielleicht als Ergebnis einiger Gewinne in der Ukraine oder vielleicht als Ergebnis einer Vereinbarung zum Schutz von Stützpunkten in Syrien, ein Faktor ist, der den Vormarsch von HTS erleichterte.

Die Tatsache, dass der Versuch der pro-iranischen Hashd al-Shaabi-Miliz im Irak, zur Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien einzumarschieren, von den USA behindert und mit Bombardements beantwortet wurde, ist für die HTS ein nicht zu leugnender Vorteil gewesen.

Der Sturz des Assad-Regimes, Israels größtem Feind nach dem Iran, war in den Worten des rechtsextremen, zionistischen Ministerpräsidenten Netenyahu, ein „historische Tag“ der keine Entwicklung sein sollte, die Israel nur über den Fernseher verfolgt. Unter den heutigen Verhältnissen wäre es eine reine Verschwörungsidee, zu behaupten, dass er vor der Operation keine Kenntnis und die HTS nicht seine Zustimmung hatte.

Der Sturz eines pro-russischen und indirekt pro-chinesischen Regimes in der polarisierten Welt war natürlich ein Bestandteil der mittelfristigen Strategien der US-amerikanischen und europäischen imperialistischen Staaten. Jede Analyse, die all dies außer Acht lässt und den Platz und die Bedeutung des Ergebnisses in der imperialistischen Polarisierung nicht berücksichtigt, wird zwangsläufig unvollständig und ungenau sein.

VON IDLIB NACH DAMASKUS

Natürlich bedeutet all dies nicht, dass die HTS nur ein einfacher Handlanger des US-Imperialismus ist. Die HTS, die versucht, sich das Hemd der gemäßigten Islamisten anzuziehen, indem sie im Einklang mit der Strategie der USA und Israels handelt, hat sicherlich ihre eigenen Berechnungen und Interessen. Aus diesem Grund könnte sie sich morgen gegen die USA und Israel stellen, an Russland annähern und neue Bündnisse mit regionalen Mächten suchen. Es scheint, dass der Anführer der HTS, Abu Mohammad Colani, nicht nur ein Dschihadist, sondern auch ein rationaler Pragmatiker ist, der die bestehenden Machtverhältnisse berücksichtigt. Dennoch kann gesagt werden, dass all diese Bestrebungen in irgendeiner Weise im Kontext der Kämpfe und Konflikte zwischen den Imperialisten stattfinden werden. Die HTS ist daher keine ausreichend verlässliche und stabile Kraft für die Imperialisten.

Denn obwohl die HTS versucht, sich als Ikhwanisten darzustellen, ist der salafistische Dschihadismus der Kern ihrer Motivation und Ideologie. Die Gründung der HTS und ihre Herrschaft in Idlib zeigen dies ebenfalls. Nach dem 2011 begonnenen Aufstand wurde Syrien schnell zu einem Zentrum für die Rekrutierung internationaler Dschihadisten. Der sich rasch ausbreitende syrische Ableger der ISIS bekannte sich zunächst zu Al-Qaida und nahm den Namen Jabhat al-Nusra an, bevor er zusammen mit anderen Gruppen eine neue salafistische dschihadiste Organisation, Hayat Tahrir al-Sham (HTS), gründete.

Nach der 2020 erzielten Einigung begann die HTS, in Idlib eine relativ stabile Scharia-Herrschaft zu errichten. In einer von Dschihadisten beherrschten Region wird von der Bevölkerung erwartet, dass sie sich an die Scharia hält und diejenigen bestraft, die dies nicht tun. „Demokratie“, auch im Sinne der Selbstdarstellung unterschiedlicher Identitäten und Überzeugungen, war natürlich ausgeschlossen. Die Praktiken in den Gefängnissen unterschieden sich nicht von denen in den Assad-Gefängnissen. Unterdrückung und Morde verschiedener Religionengemeinschaften und Sekten waren an der Tagesordnung. Frauen hatten nicht einmal das Recht, ihre Kleidung selbst zu wählen; Verschleierung war Pflicht. Anti-HTS-Demonstrationen wurden gewaltsam unterdrückt. Die Erziehung der Kinder unterlag dem Scharia-Gesetz.

Die HTS hat ein Scharia-Regime der politischen Unterdrückung errichtet, das nichts mit Demokratie zu tun hat. Sie hat ihr Netzwerk von „Einladungsbüros“, bekannt als Mekatib-ul De’ava, als Vereine zur Verbreitung der Religion, in ganz Idlib ausgebreitet. Unter der Kontrolle der zentralen Institution namens „Haus der heiligen Offenbarung“ wurde ein intensiver Ausbildungsprozess in Korankursen und Medresen durchgeführt, um den Geist des Dschihad in der „Umma“ zu verbreiten und entsprechend militärisch-politische Kader auszubilden. Kleine Kinder wurden verpflichtet, an dem Programm „Mein Gebet ist mein Leben“ teilzunehmen. Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser wurden gebaut. Es wurden kostenlose Lebensmittel und verschiedene Konsumgüter verteilt, und viele Familien erhielten Bargeldunterstützung. Es wurden Investitionen in die Infrastruktur und den Oberbau getätigt. Unter der allgemeinen Verwaltung der humanitären Dienste wurden in Städten und Dörfern Familiensiedlungen und Scharia-Zentren eingerichtet. Auf diese Weise wurde zusammen mit Repressionen Schritt für Schritt die Zustimmung und die „Unterstützung“ der Bevölkerung, sowie die „Stabilität“, die das Scharia-Regime benötigte, aufgebaut.

Woher kamen also die wirtschaftlichen Ressourcen, die diese Mini-Staatsverwaltung benötigte? In einer zusammengebrochenen Wirtschaft erhob die HTS-Steuern, wenn auch in begrenztem Umfang, aber die Hauptquelle waren die Petrodollars, die vor allem aus Katar flossen. Zusätzlich zu ihrer militärischen Unterstützung unterstützte die Türkei die Verwaltung in Idlib auch wirtschaftlich. Lange Zeit war die türkische Lira de facto die offizielle Währung in der Region. Später, mit der steigenden Inflation in der Türkei, setzte sich der Dollar durch. Es wird zudem oft behauptet, dass britische und ukrainische Militärs an der Ausbildung der HTS beteiligt waren.

Die Hauptquelle dieses vom Ausland abhängigen, aber relativ – und vorübergehend – stabilen Prozesses waren die aus Katar fließenden Petrodollars und die wirtschaftlich-militärische Unterstützung durch die Türkei. Mit dieser Unterstützung wurden nicht nur Dschihadisten genährt, sondern auch ein politisches Regime errichtet, das auf pragmatische Weise Dschihadismus und Ikhwanismus (Muslimbruderschaft) miteinander verband und von der Bildung bis zum Gesundheitswesen, von Lebensmitteln bis zur Infrastruktur Zustimmung herstellte und sogar Geld an die Bevölkerung verteilte. Mit dieser Unterstützung entwickelte sich der militärische Flügel der HTS von einer Ansammlung von Milizen zu einer Armee mit schweren Waffen und Drohnen. Auch die USA und Israel unterstützten diesen Prozess direkt oder indirekt in dem Maße, wie es ihren eigenen Strategien entsprach.

Daher macht die Tatsache, dass der Vormarsch der HTS, die von Katar und der Türkei offen wirtschaftlich, militärisch und politisch unterstützt wird, die in völligem Einklang mit der Anti-Russland-Strategie der USA steht, die zumindest von Israel gelenkt wird, das eine oder andere Maß an Unterstützung oder Zustimmung in der Bevölkerung hat, den Sturz von Assad und die Machtübernahme durch HTS nicht zu einer Volksrevolution.

Unter Bedingungen, in denen die wirtschaftlichen Ressourcen durch äußere Unterstützung abgeschnitten werden, wird die Fähigkeit des rückständigen, schariaorientierten Staatsverständnisses der HTS, Zustimmung zu erzeugen, schnell verschwinden. Übrig bleibt ein Höllenregime für Frauen, Kinder, Laizisten, Oppositionelle, Nusairier und Christen.

Die Macht der salafistischen Dschihadisten, die durch die Zusammenarbeit und Kompromisse des Imperialismus und der regionalen Mächte in Idlib gestützt und nach Damaskus geschickt wurden, als Befreiung der syrischen Völker zu definieren und zu feiern, kann nur in einer Denkweise geschehen, in der der „Imperialismus“ ignoriert wird. Tatsächlich waren es jene Imperialisten, die die ersten Gratulationsbotschaften veröffentlichten. In einem von konfessionellen und nationalen Konflikten, die vom Imperialismus genährt werden, zerrissenen Syrien scheint die Machtübernahme der HTS weder Demokratie noch Stabilität zu bringen.

(11. Dezember 2024, Evrensel)

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben

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