„Die Industrie gehört uns!“ Neun Grundsätze zur Rettung der europäischen Industrie
Übernommen von Internationale Website der PTB – PVDA:
Die Lage der Industrie in Europa ist alarmierend und ihre Zukunft steht auf dem Spiel. Dieses Dossier von lavamedia.be behandelt die wichtigsten Fragen die zu einem Verständnis der aktuellen Krise führen und schlägt 9 Grundsätze zur Rettung unserer Industrie vor.
„Die Industrie gehört uns! „Das riefen mehr als zehntausend Demonstranten am 16. September 2024 in den Straßen von Brüssel. Sie kamen aus Belgien, aber auch Delegationen aus Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und Luxemburg schlossen sich an. Die Demonstration wurde auch von der Europäischen Industriegewerkschaft (IndustriALL Europe) mitorganisiert. Alle waren da, um ihre Solidarität mit den Beschäftigten des Audi-Werks Brüssel und seiner Zulieferer auszudrücken, nachdem die Konzernleitung angekündigt hatte, das hochmoderne Werk schließen zu wollen. Die Botschaft der Demonstranten ging jedoch weit darüber hinaus. Sie sagten, dass sie den derzeitigen Trend zu Umstrukturierungen und Fabrikschließungen nicht länger hinnehmen würden1. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – diejenigen, die die Gesellschaft am Laufen halten – hatten daran erinnert, dass die in den letzten Jahren von den großen Industriekonzernen angehäuften Gewinne das Ergebnis ihrer Arbeit und ihres Know-hows sind und nicht verschleudert werden dürfen, sondern zum Aufbau der Industrie von morgen verwendet werden müssen.
Die Zukunft unserer Industrie steht auf dem Spiel
Die Lage der belgischen Industrie ist alarmierend: Konkurs von Van Hool, Ankündigung der Schließung von Audi Brussels, Umstrukturierung bei Barry Callebaut, Insolvenz von BelGan, Schließung von Fabriken bei Celanese (Chemie), Sappi (Papier), Ontex (Windeln), Bandag (Reifen) und mehrerer Textilunternehmen wie Balta, Beaulieu, McThree oder Sioen2. Ebenso werden zukünftige Investitionen in Batteriekomponenten bei Nuode infrage gestellt, u. a. aufgrund der Energiekosten und der Unsicherheiten auf dem Automobilmarkt. Hinzu kommen Schwierigkeiten in den Sektoren Stahl, Metall und Chemie mit ausgesetzten Investitionen bei Umicore oder unsicheren Investitionen bei ArcelorMittal. Das Daikin-Werk in Ostende kündigte 500 befristete Arbeitsverträge und schickte 870 Beschäftigte in die Kurzarbeit. Die Nachfrage nach Wärmepumpen ist aufgrund der Einstellung der Subventionen in vielen europäischen Ländern stark zurückgegangen. Die Großindustrie befindet sich in einer schweren Krise3.
Diese Feststellung trifft noch mehr auf Deutschland zu, die größte Industriemacht Europas, die heute am Rande einer Rezession steht. Die Bautätigkeit steht still und die Unternehmen zögern mit Investitionen. Volkswagen, das Aushängeschild der deutschen Automobilindustrie, will zum ersten Mal Produktionsstätten in Deutschland schließen. Deutsche Arbeitgeber warnen: „Ohne entschlossene Maßnahmen droht Deutschland eine schleichende Deindustrialisierung“4.
Die deutschen Haushalte – deren Reallöhne seit 2020 um 4 % gesunken sind – sparen immer mehr und konsumieren immer weniger. Die Nachfrage aus dem Ausland, vor allem aus Asien5 – was Deutschland in den 2000er Jahren zum Exportweltmeister gemacht hatte – nach Qualitätsprodukten wie Autos und Maschinen „Made in Germany“, ist rückläufig. „Die Nachfrage nach deutschen Industriegütern bleibt sowohl im Inland als auch im Ausland schwach, und der Mangel an Aufträgen wird zunehmend zum Problem“, so Geraldine Dany-Knedlik, Leiterin der Konjunkturabteilung beim DIW-Institut. Die Automobil-, Stahl- und Chemieindustrie in Belgien sind eng mit der deutschen Industrie verbunden, da Deutschland nach wie vor das wichtigste Ziel für die Exporte unseres Landes ist. In den kommenden Monaten ist nicht mit vielen neuen Aufträgen zu rechnen.
Es handelt sich also nicht nur um ein konjunkturelles Problem oder eine schlechte Phase. Es handelt sich auch nicht um ein Problem, das auf Belgien oder Deutschland beschränkt ist. Wie aus dem jüngsten Bericht des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, vom September 2024 hervorgeht, ist ganz Europa von der Krise in der Industrie betroffen6. Der Bericht sagt, dass es sich um eine „existenzielle Herausforderung“ für die europäische Industrie handelt, die unter mehreren strukturellen Nachteilen leidet: zu hohe Energiepreise und Rückstand bei Zukunftstechnologien – u. a. auf digitaler Ebene. Ebenso gerät die Elektrifizierung des Automobils ins Stocken und wird zu wenig in die Infrastruktur sowie in Forschung und Entwicklung investiert. Wenn die Situation unverändert bleibt, droht dem Kontinent die Deindustrialisierung.
Automobil: Die Profitgier der europäischen Hersteller führt in eine Sackgasse
Die Automobilindustrie ist ein wichtiger Industriesektor in Europa. Er beschäftigt direkt oder indirekt 13,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Industrie ist auch eng mit anderen vor- und nachgelagerten Industriezweigen verbunden, z. B. mit der Metall-, Chemie-, Kunststoff-, Glas-, Textil- oder Elektronik- und Computerindustrie.
Allerdings: „Die traditionelle Führungsrolle der EU in der Automobilindustrie ist erodiert. Die Automobilzulieferkette in der EU leidet derzeit unter Problemen mit der Wettbewerbsfähigkeit, sowohl bei den Kosten als auch bei der Technologie“, so Mario Draghi in seinem Bericht. Die Zukunft der europäischen Automobilindustrie ist heute durch mehrere Faktoren bedroht. Erstens wurden bevorzugt größere und teurere Fahrzeuge hergestellt, da sie gewinnbringender seien, und damit der Übergang zu Elektrofahrzeugen für einen Großteil der Verbraucher unerreichbar gemacht. Zweitens wurde trotz Rekordgewinnen zu wenig in Forschung und Entwicklung investiert, was zu einem deutlichen Technologie-Rückstand gegenüber den USA und China führte. Schließlich haben die Staaten zu wenig in den Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge investiert und damit ein weiteres Hindernis für die Masseneinführung von Elektrofahrzeugen und den Übergang zur Elektromobilität geschaffen.
a) Preise und Gewinne: größtes Hindernis für Elektroautos
Das größte Hindernis für den Umstieg auf ein Elektroauto ist der zu hohe Preis. Die zu hohen Preise sind eine direkteFolge der Strategie der europäischen Autohersteller. „Die Preise für Fahrzeuge jeglicher Motorisierung sind erheblich gestiegen. Das hat dazu geführt, dass der Kauf eines Neuwagens immer mehr zum Privileg wohlhabender Haushalte wurde, was gleichzeitig zu einer Verteuerung der Gebrauchtwagen und einer Überalterung des Fahrzeugbestands führt. „Da sowohl seitens der allgemeinen, französischen oder italienischen Hersteller als auch seitens der deutschen oder schwedischen Premiumhersteller nur Fahrzeuge aus den gehobenen Segmenten angeboten werden, explodieren die Preise“7, erklärt Tommaso Pardi, Forscher und Dozent an der École normale supérieure de Paris-Saclay und an der ULB.
Ganz Europa ist von der Krise in der Industrie betroffen
Betrachtet man die Einnahmen pro Auto seit 2016, so sind diese bei allen europäischen Autoherstellern deutlich gestiegen. Dafür gibt es drei Gründe:
1. Die europäischen Hersteller haben den SUV maximal gefördert und seinen Anteil von 24 % der Verkäufe im Jahr 2016 auf 47 % im Jahr 2022 gesteigert. Gleichzeitig wurde die Produktion von kleineren Modellen wie dem Fiat Punto (im Jahr 2018), dem Peugeot 108 (im Jahr 2021) oder dem Citroën C1 (im Jahr 2022) gestoppt;
2. Die Hersteller haben die Verkaufspreise für SUVs aufgebläht, um ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Autohersteller betonen selbst gegenüber ihren Investoren oft die höhere Rentabilität von SUV-Modellen;
3. Die Konstrukteure nutzten die Inflation, um ihre Preise noch über die Inflationsrate hinaus zu erhöhen.8
Dank dieser Strategie konnte die Mehrheit der europäischen Autohersteller einen erheblichen Anstieg ihrer Gewinne verzeichnen. So erzielte Audi operative Rekordgewinne von7,6 Milliarden Euro9 im Jahr 2022 und 6,3 Milliarden Euro10 im Jahr 2023. Seine Muttergesellschaft, der VW-Konzern, schüttete im Jahr 2023 fast 11 Milliarden an Dividenden an seine Aktionäre aus11. Und was für VW gilt, gilt für die gesamte europäische Automobilbranche, wie eine aktuelle Studie erneut gezeigt hat12.
„Die Autos sind schwerer, leistungsstärker und damit teurer geworden. Darin liegt ein Paradoxon. Gewicht und Leistung sind die beiden Faktoren, die sich am stärksten auf den Verbrauch von „Kraftstoff“ auswirken, unabhängig davon, ob es sich um ein Elektro- oder ein Verbrennerfahrzeug handelt. Wenn wir das Gewicht und die Leistung gesenkt hätten, hätten wir auf allen Ebenen gewonnen – ökologisch, sozial und industriell“13, erklärt Pardi.
Ein schwereres Fahrzeug, wie ein SUV, erfordert auch eine stärkere Batterie, was in vielerlei Hinsicht ein Unding ist. Aus Gesellschaftlicher Sicht sind viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht in der Lage, sich solche Fahrzeuge zu leisten. Industriell gesehen verhindert der hohe Preis die Entwicklung einer Massenproduktion von Elektroautos. Ökologisch gesehen wird dadurch der Bergbau mit seinen negativen Auswirkungen auf die Umwelt intensiviert, während der Energiebedarf steigt. Geopolitisch gesehen verfügen wir nur über wenige der Rohstoffe, die für den Bau der Batterien in Europa benötigt werden, was unsere Abhängigkeit vom Ausland verstärkt. Anstatt kleinere und billigere Elektrofahrzeuge zu produzieren, wollen mehrere Hersteller ihre Pläne zur Elektrifizierung verschieben. Eine Vogel-Strauß-Politik – allein auf kurzfristigen Gewinn abgestellt -, die uns in eine weitere Sackgasse führt.
b) Eine dringend notwendige technologische Wende
Koen Schoors, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Gent, erklärt: “ Wenn du nichts tust, verlierst du alles. Wir sehen bereits, dass sich die Autoindustrie verlangsamt, während die Autoexporte aus China steigen. […] Das liegt einfach daran, dass sie billigere Elektroautos haben, ohne qualitativ schlechter zu sein, denn sie haben den technologischen Vorsprung. Wir können entweder reagieren und sagen „Nein, wir müssen weiterhin benzinbetriebene Autos herstellen und sie so teuer wie möglich machen“. Oder wir können sagen: „Nein, wir müssen auch den Batteriesektor so schnell wie möglich strategisch ausbauen, damit wir auch diese Technologie haben und Elektroautos billiger machen können.“ Das ist der einzige Weg, den wir einschlagen müssen, denn sonst wird der Automobilsektor wie der Kohlebergbau, wo man 20 Jahre lang subventioniert, um am Ende alles zu verlieren.“14
Diese Ansicht vertritt auch Joannes Laveyne, Forscher am Laboratorium für elektrische Energietechnologie der Universität Gent: „Innovation muss unsere Rettung sein. Die Frage ist jedoch, ob die europäische Automobilindustrie wirklich an Innovationen interessiert ist. Sie hat genau wie dieser Sektor in China in den letzten zehn Jahren direkt oder indirekt Milliarden an öffentlicher Unterstützung erhalten (insbesondere über Recyclingprämien). Wenn dieses Geld massiv in die Elektrifizierung investiert worden wäre, hätten wir heute europäische Elektroautos zu erschwinglichen Preisen und mit großer Reichweite. Stattdessen haben die Hersteller beschlossen, dieses Geld für die Entwicklung von Schummelsoftware auszugeben, damit sie noch ein wenig länger Verbrennungsmotoren produzieren können, für Hybride, die bestenfalls eine kurzfristige Übergangstechnologie zum Elektroantrieb sind, oder für Technologien wie das Fahren mit Erdgas oder Wasserstoff, die eine völlige Verschwendung von Zeit und Geld sind.“15
Die Gewinne der großen Industriekonzerne in den letzten Jahren sind das Ergebnis der Arbeit und des Know-hows derjenigen, die die Gesellschaft am Laufen halten
Die Automobilindustrie steht an einem technologischen Wendepunkt in ihrer Geschichte: Wendepunkt auf der Ebene der Produktionsmethoden und Wendepunkt bei den Endprodukten. Eine entscheidende Veränderung in der Automobilproduktion ist die Einführung von künstlicher Intelligenz, die eine immer stärkere Automatisierung der Automobilindustrie ermöglicht. Neben diesem Wandel in der Produktion sieht die Automobilindustrie außer Elektrofahrzeugen auch selbstfahrende Autos auftauchen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das selbstfahrende Auto – das sich dank fortschrittlicher Technologien wie künstliche Intelligenz, Sensoren, Chips usw. ohne menschliches Zutun fortbewegen kann – tatsächlich auf dem Markt erhältlich sein wird. Ob in den USA oder in China, die ersten Taxiflotten, die nur aus selbstfahrenden Autos bestehen, treten bereits in mehreren Städten in Erscheinung. Diese Entwicklung geht natürlich Hand in Hand mit einem wachsenden Anteil von Elektronik und Computertechnik im Auto.
Wir stehen an einem bedeutenden technologischen Wendepunkt, der von den europäischen Herstellern erhebliche Investitionen erfordert, wenn sie ihren Rückstand aufholen wollen. Doch stattdessen hat der Volkswagenkonzern im Jahr 2023 11 Milliarden an Dividenden an seine Aktionäre ausgeschüttet, anstatt diese Ressourcen in die Industrie der Zukunft zu reinvestieren. Die (VW-)Gruppe soll sogar erwägen, fast die Hälfte ihrer Mitarbeiter in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung zu entlassen, um „Kosten zu sparen“16.
Die Krise des Automobilkonzerns Stellantis – zu dem Citroën, Peugeot, Opel, Fiat, Alfa Romeo, Jeep und Chrysler gehören – ist ebenfalls ein Beispiel für das Versagen der europäischen Hersteller. Die belgische Börsenzeitung De Tijd erklärt:
„Bis Anfang dieses Jahres wurde Carlos Tavares (CEO von Stellantis) noch weitgehend für seine Strategie gelobt, weiterhin nicht nur Elektroautos, sondern auch Benzinautos zu verkaufen, sowie für seine unaufhörliche Bereitschaft, Kosten zu senken und sich voll und ganz auf die Gewinnmargen zu konzentrieren. Seit dem Sommer geht jedoch alles schief. Die Vorgaben zur Kostensenkung scheinen nicht mehr zu funktionieren. Bei Stellantis beklagt man sich, dass die fehlenden Investitionen zu einer Verzögerung bei der Entwicklung der Modelle geführt haben“. Und die Börsenzeitung fügt hinzu: „Tavares setzte während der Covid-Krise und dem daraus resultierenden Mangel an Bauteilen auf seine teuersten und profitabelsten Modelle. Kleinwagen wie der Citroën C1 wurden aus dem Programm genommen. Jetzt, da an Komponenten kein Mangel mehr herrscht, sind die Kunden nicht mehr bereit, Premiumpreise für Stellantis-Marken zu zahlen“.17
Chemie- und Stahlindustrie wegen teurer Energie und mangelnder Investitionen in Gefahr
Chemie- und Stahlindustrie, zwei Säulen der europäischen Wirtschaft, sind heute genauso stark gefährdet. Die Chemie ist für die Herstellung wichtiger Güter wie Arzneimittel, Reinigungsmittel, Kosmetika und synthetische Textilien unerlässlich. Außerdem liefert sie Materialien für Verpackungen, Farben, Klebstoffe sowie für die Elektronik (Smartphones, Computer) und für das Transportwesen (Reifen, Autoteile). Mit über 1,2 Millionen direkten Arbeitsplätzen in Europa spielt die Chemiebranche eine Schlüsselrolle in der Lieferkette vieler Branchen. Was die Stahlindustrie betrifft, so ist sie das Herzstück der industrialisierten Gesellschaften und spielt eine wesentliche Rolle bei der Energiewende. Stahl wird im Bauwesen, im Transportwesen und in der Industrie verwendet und ist entscheidend für die Herstellung von Windkraftanlagen und nachhaltiger Infrastruktur. In Europa beschäftigt die Stahlindustrie direkt mehr als 300.000 Menschen und unterstützt indirekt mehr als 2 Millionen Arbeitsplätze, was ihre strategische Bedeutung für die Wirtschaft und die Energiezukunft widerspiegelt.
Belgische und europäische Arbeitnehmer gehören zu den produktivsten und am besten ausgebildeten der Welt. Die hohen Energiepreise sind heute jedoch zur größten Bedrohung für die Zukunft der Industrie in Europa und Belgien geworden. „Obwohl die Energiepreise seit ihrem Höchststand deutlich gesunken sind, haben europäische Unternehmen immer noch mit Strompreisen zu kämpfen, die zwei- bis dreimal höher sind als in den USA. Die Preise für Erdgas sind vier- bis fünfmal höher“18, erklärt Mario Draghi. Die Auslastung der Produktionskapazitäten in energieintensiven Branchen wie der chemischen Industrie, der Kunststoffverarbeitung, der Papierindustrie und der Textilindustrie befindet sich auf einem historischen Tiefstand.19
Das größte Hindernis für den Umstieg auf Elektroautos ist, dass sie zu teuer sind. Dieser überhöhte Preis steht in direktem Zusammenhang mit den Strategien der Hersteller
Die hohen Energiepreise sind vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen: den Krieg in der Ukraine, der die Gaspreise in die Höhe getrieben hat, und den liberal geprägten Energiemarkt. Auch ohne echte Verknappung wurden die Preise stark von Spekulationen beeinflusst, die wiederum durch Versorgungsprobleme und geopolitische Instabilität verstärkt wurden. Das billigere russische Gas wurde durch das teurere und umweltschädlichere Schiefergas aus den USA ersetzt.
Bei Strom wird der Preis im Rahmen des europäischen Marktes häufig durch den sogenannten „Grenzpreis“ bestimmt. Das bedeutet, dass Kosten der wie zuletzt erzeugten Stromeinheit, im Allgemeinen aus Gas oder Kohle gewonnen, den Gesamtpreis für Strom festlegen, selbst wenn billigere Quellen wie erneuerbare Energien oder (bereits abgeschriebene) Kernenergie genutzt werden. Dieser Mechanismus macht Strom besonders anfällig für Schwankungen der Gaspreise. Obwohl also in der EU Strom aus erneuerbaren oder nuklearen Quellen erzeugt wird, ziehen die hohen Gaspreise die Tarife weiterhin nach oben. Dadurch können einige Erzeuger, insbesondere solche mit niedrigen Produktionskosten wie bei der Kernkraft, hohe Übergewinne erzielen. Das macht die Produktion in Europa viel teurer als in den USA und Asien.
Um das Energieproblem anzugehen, haben mehrere europäische Regierungschefs – darunter der scheidende Premierminister Alexander De Croo – versprochen, die Nordsee mit massiven Investitionen in Offshore-Windparks zum europäischen Energiekraftwerk zu machen20. Aber „im Moment braut sich bei den Windkraftprojekten in der Nordsee nur heiße Luft zusammen“, fasst die Finanzzeitung L’Echo zusammen21. Die Investitionen in der europäischen Nordsee hinken tatsächlich hinterher, und es gibt keine Garantie dafür, dass die aktuellen Pläne auch wirklich umgesetzt werden. Inflation, Versorgungsprobleme und steigende Zinssätze machen Investitionen viel teurer und schrecken private Investoren ab. Die Gewinnaussichten sind nicht sicher und hoch genug, um den Privatsektor davon zu überzeugen, Investitionen in der erforderlichen Höhe zu tätigen.
Der Volkswagen Konzern schüttete im Jahr 2023 fast 11 Milliarden Euro an Dividenden an seine Aktionäre aus.
Ein weiteres strategisches Element, um die Verwendung von Gas (hauptsächlich in der Chemie) oder Kohle (in der Stahlindustrie) als Rohstoff in der Industrie zu ersetzen, ist „grüner Wasserstoff“ – d. h. Wasserstoff, der aus erneuerbarem Strom hergestellt wird. In ihrer Wasserstoffstrategie (2020) sprach die Europäische Kommission davon, bis 2024 6 GW an Elektrolysatoren zu installieren und bis zu 1 Million Tonnen erneuerbaren Wasserstoff zu produzieren. Auch hier setzt die Politik auf den Markt und private Investoren, um ihre Ziele zu erreichen.
Das Resultat: die Ende 2023 installierte Kapazität belief sich auf … 3 % des erklärten Ziels. Unter Berücksichtigung der Projekte, die bis Ende 2025 stehen sollen, erreichen wir nicht einmal ein Drittel der von der Kommission eingebrachten Zielvorgaben22. Der Europäische Rechnungshof hat diesen Sommer einen vernichtenden Bericht herausgebracht und behauptet, dass auch die Ziele der Europäischen Kommission für 2030 nicht erreicht werden23.
a) Chemie auf dem Tiefpunkt
Der Gaspreis in Europa ist heute noch etwa doppelt so hoch wie im Jahr 2019 und bleibt volatil. Als großer Gasverbraucher für seine Produktionsprozesse, insbesondere für die Herstellung von Wasserstoff, ist der Chemiesektor besonders betroffen. Während die Gewinne der Chemieunternehmen in den letzten Jahren oft hohe Spitzenwerte erreicht haben, befindet sich heute die Aktivität dort auf dem niedrigsten Stand seit 40 Jahren. Die Situation ist unhaltbar.
Darüber müssen ab 2030 42% des in der Industrie verbrauchten Wasserstoffs aus erneuerbarer Elektrizität stammen und bis 2035 ist eine weitere Steigerung auf 60% geplant. Grüner Wasserstoff ist immer noch viel teurer als der aus Erdgas hergestellte Wasserstoff. Um diese Herausforderung zu bewältigen, will der Arbeitgeberverband der Chemieindustrie, Essenscia, weiterhin Gas und andere fossile Brennstoffe verwenden, während die bei der Wasserstoffproduktion entstehenden CO2-Emissionen aufgefangen und im Boden gespeichert werden sollen, und zwar mit staatlicher finanzieller Unterstützung.24
Diese Strategie stellt jedoch eine gefährliche Flucht nach vorn weil sie zwei große Risiken birgt. Einerseits hält sie unsere Abhängigkeit von Gas aufrecht, dessen Preis weiterhin zu hoch und volatil sein wird. Andererseits ist die weitere Herstellung von Wasserstoff aus Gas und das Auffangen und Vergraben der CO2-Emissionen eine riskante und sehr teure Technologie. Mit diesem Ansatz laufen wir Gefahr, bei den <Fossilen> hängen zu bleiben: die Gefahr, massiv in Infrastrukturen zu investieren, die auf fossiler Energie basieren und angesichts des Aufkommens neuer, leistungsfähigerer und nachhaltigerer grüner Technologien schnell veraltet sein könnten.
Um die Zukunft unserer chemischen Industrie zu sichern, müssen wir investieren, damit die chemische Industrie schrittweise kohlenstoffneutral wird. Ein erstes Element ist das Recycling. Ein erheblicher Teil des Bedarfs an Kunststoffen kann durch mechanisches Recycling (Wiederverwendung) und chemisches Recycling gedeckt werden. Unternehmen, die chemisches Recycling betreiben, verwenden Verfahren, mit denen Kunststoffe und andere Materialien in ihre chemischen Grundstrukturen wie Monomere oder andere Rohstoffe zerlegt werden, um sie anschließend für die Herstellung neuer Kunststoffe oder anderer Produkte wiederzuverwenden. Wir müssen unsere Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung sowie den Bau von Anlagen, die sich dem chemischen Recycling widmen, verstärken.
Darüber hinaus gibt es grünes Methanol. Methanol ist ein wichtiger Rohstoff für die chemischen Prozesse vieler Unternehmen. Grünes Methanol kann aus aufgefangenem Kohlendioxid (CO2) und Wasserstoff hergestellt werden. Diese Technik wird in China bereits in großem Maßstab eingesetzt. Mit grünem Wasserstoff und grünem Methanol sind wir in der Lage, fast die gesamte Branche mit Rohstoffen für eine kohlenstoffneutrale Produktion zu versorgen: Ammoniak, Ethylen, Propylen, Butadien, Benzol, Toluol und Xylol.
Das ist jedoch nicht die Richtung, die derzeit eingeschlagen wird. Anfang 2024 wurde das Projekt „Power to Methanol“, eine Pilotanlage für grünes Methanol, im Hafen von Antwerpen, eingestellt. Der Grund dafür sind steigende Energiepreise und „schwierige Marktbedingungen“. Der Hafen von Antwerpen verfügt als zweitgrößte Chemieplattform der Welt über enorme Vorteile in Bezug auf Wissen, qualifizierte Arbeitskräfte und Forschungszentren. Er kann eine Vorreiterrolle spielen und so die Zukunft unserer Industrie, der Arbeitsplätze und des Klimawandels sichern. Wenn wir unsere Forschung und unsere Investitionen jedoch nicht auf Zukunftstechnologien ausrichten und unsere Industriepolitik vom „Markt“ und kurzfristigen Gewinnaussichten bestimmen lassen, werden wir den Anschluss verpassen. Und es besteht dringender Handlungsbedarf. „Großinvestitionen in Europa sind seit einigen Jahren ausgeblieben25. „Wenn die Unternehmen anfangen, ihre hochmodernen Fabriken in anderen Regionen zu bauen, können wir diese Produktion nicht mehr zurückholen“, bestätigt Jan Remeysen, Geschäftsführer von BASF in Antwerpen und seit kurzem Vorsitzender des belgischen Verbands der chemischen Industrie Essenscia.
b) Vineo, das Projekt, das zeigt, dass grüne Chemie möglich ist
Vioneo, eine neue Tochtergesellschaft von AP Moller, plant den Bau der ersten europäischen Kunststofffabrik ohne fossile Brennstoffe im Hafen von Antwerpen. Die Anlage würde jährlich 300.000 Tonnen Kunststoff produzieren und dabei grünes Methanol sowie CO2 verwenden. Vioneo behauptet, dass es sich einer stabilen Versorgung mit grünem Methanol, hauptsächlich aus China, sicher sein kann. Das Unternehmen hofft, in Zukunft europäisches grünes Methanol beziehen zu können, wenn sich Projekte entwickeln.
Diese Produktion, die auf erneuerbaren Energien basiert, könnte im Vergleich zu herkömmlichen Methoden 1,5 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen. Die so hergestellten Kunststoffe würden sich für eine breite Palette von Anwendungen eignen, einschließlich Medizin und Lebensmittel. Die endgültige Entscheidung über diese Investition wird in einem Jahr getroffen werden, und wenn sie positiv ausfällt, könnte die Anlage nach drei bis vier Jahren Bauzeit im Jahr 2028 in Betrieb gehen. Dieses Projekt zeigt, dass der Weg zu einer grünen Chemie technisch durchaus möglich ist.
Damit diese Initiative tatsächlich umgesetzt werden kann, müssen jedoch mehrere Bedingungen erfüllt sein. Erstens werden die Kunststoffe von Vioneo teurer sein als billige herkömmliche Kunststoffe. Die Verwendung solcher Kunststoffe in der Produktionskette muss daher gefördert und die Preise müssen kontrolliert werden, damit diese Umstellung nicht zu einer übermäßigen Kostensteigerung genutzt wird. Zweitens müssen die öffentlichen Kapazitäten zur Erzeugung von grünem Strom und Wasserstoff ausgebaut werden, damit sie reichlich und zu geringen Kosten zur Verfügung stehen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass diese Art von Projekten funktionieren und, mehr noch, ausgebreitet werden kann. Drittens muss dieser Übergang in einem organisierten und geplanten Rahmen stattfinden. Es ist zum Beispiel absurd, dass das Pilotprojekt „Power to Methanol“ vor Kurzem eingestellt wurde.
c) Stahlindustrie in Turbulenzen und von Standortverlagerungen bedroht
Die europäische Stahlindustrie durchlebt derzeit ihre schlimmste Krise seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, gekennzeichnet durch einen historischen Produktionsrückgang und einen starken Druck angesichts der internationalen Konkurrenz. Im Jahr 2023 erreichte die Rohstahlproduktion in der EU ihren Tiefststand. Die Binnennachfrage ist rückläufig, und überall in Europa werden Hochöfen stillgelegt, wodurch Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet sind.
In China, dem weltweit größten Stahlproduzenten, verlangsamt sich die Binnennachfrage aufgrund eines geringeren Bedarfs an Infrastruktur und der Krise im Immobiliensektor. Infolgedessen exportiert China einen immer größeren Teil seiner Produktion. Mary-Françoise Renard, eine auf die Wirtschaftsbeziehungen mit China spezialisierte Wirtschaftswissenschaftlerin, erklärt, dass die europäische Stahlindustrie Schwierigkeiten hat, mit der chinesischen Produktion zu konkurrieren, und zwar sowohl quantitativ als auch qualitativ, da China in den letzten 20 Jahren stark investiert hat, um seine Stahlindustrie zu modernisieren. In Europa hingegen sind einige Fabriken veraltet und haben Schwierigkeiten, sich zu modernisieren, weil es an Investitionen fehlt und es keine echte europäische Industriepolitik gibt26.
Im Vereinigten Königreich hat Tata Steel gerade seinen letzten Hochofen geschlossen. Die Gewerkschaft prangert den von ihr sogenannten „industriellen Vandalismus“ an, wegen dem die Arbeitnehmer den Preis für den Technologiewandel zahlen, der zu spät, mit zu wenig Finanzierung und nach Jahren der Unterinvestition kommt27. In Deutschland kündigt ThyssenKrupp an Tausende von Arbeitsplätzen zu streichen, um „rentabler zu werden“28. „Wenn die Branche in Europa um weniger als 30 Prozent schrumpft, können wir von Glück sprechen. Aber ich befürchte, dass es mehr werden wird“, kündigte Geert Van Poelvoorde, CEO von ArcelorMittal Europe, an28.
Ändert sich die Politik nicht, sieht die Zukunft der Stahlindustrie nicht rosig aus. Auch da zögern die europäischen Industriellen mit Investitionen. Um grünen Stahl zu produzieren, müssen kohlebefeuerte Hochöfen durch Anlagen zur Direktreduktion von Eisen (DRI)30 ersetzt werden, die mit erneuerbarem Wasserstoff oder als Elektrolichtbogenöfen (EAF) betrieben werden. Eine DRI-Anlage kann auch mit Erdgas betrieben werden, was im Vergleich zu herkömmlichen Hochöfen bereits zu einer deutlichen Senkung der CO2-Emissionen führt, bis erneuerbarer Wasserstoff zur Verfügung steht. ArcelorMittal hatte mehrere Investitionen in diese grünen Technologien in Gent, Frankreich, Deutschland und Spanien geplant. Tata Steel und Thyssenkrupp hatten gleichartige Pläne.
Die Energiekrise hat diese Pläne jedoch grundlegend verändert. Angesichts der steigenden Energiekosten (Gas und Strom) und der Ungewissheit über die zukünftige Erzeugung preisgünstiger erneuerbarer Energie zögern die Stahlriesen in Europa, die notwendigen Investitionen zu tätigen. Der deutsche Stahlhersteller ThyssenKrupp will seine Projekte überprüfen und sagt, dass er „über andere Optionen“ als die DRI „nachdenkt“31. Tata Steel will im Vereinigten Königreich nur in einen Elektroofen, nicht aber in eine DRI-Anlage investieren, während die Situation für ihre Anlage in IJmuiden in den Niederlanden weiterhin unsicher ist. Und auch ArcelorMittal gab bekannt, dass ein Teil seiner Investitionen zur Herstellung von grünem Stahl in Europa in Frage gestellt wurde. Heute würden sogar die DRI-Projekte in Bremen und Eisenhüttenstadt sowie das Projekt in Asturien aufgegeben32. Die Projekte in Dünkirchen und Gent werden noch geprüft. Die Entscheidung, ob die Investitionen in Frankreich und/oder Belgien getätigt werden, soll Anfang 2025 fallen.
ArcelorMittal prüft unterdessen die Möglichkeit, in neue DRI-Anlagen außerhalb Europas, in Regionen in denen Energie kostengünstiger ist, zu investieren. Das an diesen Standorten produzierte vorreduzierte Eisen würde dann nach Europa importiert werden, wo nur Elektroöfen gebaut würden, um das vorreduzierte Eisen zu schmelzen und zu verarbeiten. Dies würde bedeuten, dass das Herzstück der Stahlproduktion, nämlich der sogenannte „Reduktionsprozess“ des Eisenerzes, ausgelagert würde.
Die Schwierigkeiten, auf die das Management von ArcelorMittal stößt, hängen insbesondere mit dem Transport zusammen. Vorreduziertes Eisen ist extrem oxidationsempfindlich, wenn es Sauerstoff oder Feuchtigkeit ausgesetzt wird. Sein Transport erfordert den Einsatz von speziell ausgerüsteten Schiffen, deren Betriebskosten hoch sind. Um die Energieeffizienz zu maximieren, ist es außerdem besser, das vorreduzierte Eisen direkt in Elektroöfen zu schmelzen, wenn es noch heiß ist. Das Schmelzen von vorreduziertem Eisen nach dem Abkühlen erfordert eine größere Energiemenge, was zu höheren Betriebskosten führt. ArcelorMittal hat jedoch vor kurzem eine hochmoderne DRI-Anlage (Direktreduktionsanlage) in Texas erworben. Der Standort in Texas, mit seinem eigenen Tiefseehafen, kann hochwertiges vorreduziertes Eisen herstellen, das speziell entwickelt wurde, um Probleme bei Transport und Materialfluss zu überwinden33.
Der Vorstandsvorsitzende von ArcelorMittal Europe, Geert Van Poelvoorde, hat bereits angekündigt, dass der Konzern eine zweite Anlage dieser Art in Texas baut, um das dort produzierte Material in die ganze Welt zu exportieren34. In jüngerer Zeit sagte der CEO von ArcelorMittal Europe auch: „Inzwischen investieren wir weiterhin unermüdlich in Brasilien, Indien und Kanada. Der europäische Zweig bleibt vorerst der größte der Gruppe, aber wir sehen seinen Rückgang deutlich kommen. ArcelorMittal ist immer noch ein europäisches Unternehmen mit Hauptsitz in Luxemburg, aber der Konzern beginnt, seine Aktivitäten neu auszurichten.35„
Die Gewinne – Rekordgewinne in den Jahren 2021 und 2022 -, die ArcelorMittal dank der Beschäftigten in Europa erzielt hat, werden nun also von der Konzernleitung zur Finanzierung einer potenziellen Standortverlagerung verwendet.
Europa muss zwischen den USA und China seinen eigenen Weg gehen.
Seit mehreren Jahrzehnten hat die Europäische Union keine Industriepolitik zur Stärkung strategisch wichtiger Industriezweige betrieben. Stattdessen hat sie die industrielle Entwicklung in die Hände des Marktes gelegt. Mit der Lissabon-Strategie in den 2000er Jahren setzte die EU auf Wettbewerbsfähigkeit durch Freihandel, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Privatisierung. Ab den 2010er Jahren lag der Fokus auf Sparmaßnahmen welcher zu einem Jahrzehnt der Stagnation und zu geringer öffentlicher Investitionen leitete. Europa ist zu einer untergehenden Macht geworden, die immer mehr hinter den USA zurückbleibt und mittlerweile von China überholt wurde.
Hohe Energiepreise stellen mittlerweile die größte Bedrohung für die Zukunft der Industrie in Europa und Belgien dar.
Die Auswirkungen der Covid-Pandemie haben die Diskussionen um die Reindustrialisierung Europas neu entfacht, insbesondere mit dem Argument der Wiederaneignung strategischer Wertschöpfungsketten. Dies hat zum Investitionsplan NextGenerationEU geführt, ausgestattet mit 750 Milliarden Euro und von der EU gemeinsam finanziert. Da die EU die Umsetzung dieses Plans jedoch dem Privatsektor und den Mitgliedstaaten überließ, produzierte sie einen Flickenteppich aus nationalen Maßnahmen, ohne gemeinsame strategische Impulse oder eine wirklich kohärente Industriepolitik. Der Krieg in der Ukraine hat anschließend die europäische Industriekrise verschärft, insbesondere durch den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit durch das Ende billiger Gasimporte aus Russland36.
Umgekehrt haben andere Länder andere Entscheidungen getroffen. China hat zum Beispiel in den letzten Jahren massiv in seine Infrastruktur und Industrie investiert. Es stellt auch erhebliche Ressourcen für Forschung und Entwicklung bereit und beschränkt sich nicht mehr auf einfache Prozesse oder Zwischenprodukte. Nun entwickelt China seine eigene Technologie und High-End-Produkte und nimmt heute eine führende Position in vielen Zukunftstechnologien ein.
Laut einem aktuellen Bericht des Australian Strategic Policy Institute hat China in 37 von 44 analysierten Bereichen der Spitzentechnologie die Führung übernommen, von elektrischen Batterien bis hin zur Kommunikation auf der Grundlage von 5G- oder 6G-Technologien. Die USA bleiben in nur sieben Technologien führend, wie z. B. bei Impfstoffen, Quantencomputern oder Raumstartsystemen37. Europa hingegen spiel praktisch keine Rolle mehr.
In den letzten fünfzehn Jahren hat sich gerade China zum Meister der Elektrofahrzeuge aufgeschwungen. Laut Secafi, einem französischen Unternehmen, das auf wirtschaftliche und industrielle Analysen und Beratung spezialisiert ist, stützt sich die chinesische Politik auf drei Säulen38:
1. die zentrale Planung: Produktionsziele, Plan für die Installation von Ladestationen, Mobilisierung der verschiedenen Ebenen der Macht (national, in der Provinz und lokal), Aufbau der gesamten Produktionskette (von den Rohstoffen bis zu den Endprodukten) …
2. die technologische Führung: Massive Unterstützung für Forschung und Entwicklung, schrittweise und dauerhafte Anhebung der zu erreichenden technologischen Standards …
3. eine Politik zugunsten des praktischen Nutzens: Anreize für den Kauf von Elektrofahrzeugen, Förderung der Massenproduktion von billigen Fahrzeugen, breites Angebot an Ladestationen (der europäische Durchschnitt liegt bei 13 Fahrzeugen pro (öffentlicher) Ladestation, in China bei 7 Fahrzeugen pro Ladestation) …
Der Wirtschaftswissenschaftler der Universität Gent, Koen Schoors, bestätigt, dass China einen beachtlichen Vorsprung vor Europa hat: „Tatsächlich hat Europa den Bau von Elektroautos lange hinausgezögert. China arbeitet seit 10 bis 15 Jahren strategisch daran, diesen gesamten Sektor zu entwickeln. Nicht nur die Automobilproduktion, sondern auch der Batteriesektor. Alles, was die Elektrifizierung betrifft. Und wenn man ehrlich sind, muss man zugeben, dass sie jetzt einen technologischen Vorsprung haben. Das ist der Hauptgrund, warum sie diese billigen Elektroautos herstellen können“39.
Angesichts der raschen Entwicklung Chinas ergreifen die USA zunehmend protektionistische Maßnahmen und haben ein umfangreiches Subventionsprogramm, den Inflation Reduction Act, aufgelegt. Auf diese Weise wollen sie in der Lage sein, Investitionen in zukunftsträchtige Industriezweige wie Batterien, Windkraftanlagen und andere Zukunftstechnologien anzuziehen. Washington zögert auch nicht, unsere Industrie direkt zu kontaktieren, um sie auf die andere Seite des Atlantiks zu locken. Audi will z. B. sein Montagewerk für das Modell Q8 e-tron nach Mexiko verlagern, wo man ebenfalls in den Genuss von US-Fördermitteln kommen kann. Und ArcelorMittal wird für seine Investitionen in Texas erhebliche Subventionen erhalten.
Um diese massive Subventionspolitik zu finanzieren, bedienen sich die USA unter anderem der Energieabhängigkeit der Europäischen Union. „Im vergangenen Jahr hat Europa im Durchschnitt fossile Brennstoffe im Wert von 40 Milliarden Euro pro Monat importiert. Das sind mehr als eine Milliarde Euro pro Tag, die sich buchstäblich über die Tanks unserer Autos in Luft auflösen, mehr als eine Milliarde Euro pro Tag, die aus Ihrem und meinem Portemonnaie verschwinden, die Europa verlassen und nie wieder zurückkehren. Dieses Geld fließt unter anderem in die USA, wo Präsident Joe Biden es nutzt, um die Wirtschaft grün anzustreichen und die Industrie aus Europa herauszulocken“40, erklärt der Forscher Joannes Laveyne von der Universität Gent.
Die Europäische Union hat die Entwicklung ihrer Industrie in den Händen des freien Marktes gelassen
Angesichts dieser Verzögerung glauben einige, dass wir die europäische Industrie retten werden, indem wir auch den Subventionshahn aufdrehen und den europäischen Markt verbarrikadieren. Der von der Europäischen Kommission initiierte Green Deal Industrial Plan beruht auf drei Säulen. Erstens die Deregulierung von Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmer und Umwelt. Zweitens direkte und indirekte Hilfen, von denen vor allem die großen multinationalen Konzerne profitieren, wie Subventionen, die fast bedingungslos gewährt wurden. Drittens ermöglicht die Europäische Union multinationalen Unternehmen, über Beratungs- oder Consulting-Plattformen indirekt über ihre Politik zu entscheiden, zusätzlich zu den öffentlich-privaten Partnerschaften.
Die Großindustrie verlangt jedoch mehr und treibt die Preise weiter in die Höhe. Die Wirtschaftszeitung The Financial Times spricht sogar von einem „Weltkrieg der Subventionen“. Im Februar 2024 unterzeichneten rund siebzig Vorstandsvorsitzende großer, energieintensiver Industrieunternehmen die Antwerpener Erklärung für einen Europäischen Industriepakt an die Adresse der neuen Europäischen Kommission. Dieser Gipfel, der in der BASF-Niederlassung im Hafen von Antwerpen stattfand, setzte zwei Hauptprioritäten: erstens die Einführung einer Subventionspolitik ähnlich der der USA mit gleichwertigen Beihilfen in Europa und zweitens die Bereitschaft, Reglementierungen abzubauen. Kurz gesagt: mehr Geld und weniger Regeln.
Das Problem ist, dass dieser Ansatz nicht funktioniert. In einem Krieg um Subventionen sind wir immer die Verlierer. „Multinationale Unternehmen sind einfach zu Subventionsjägern geworden“, sagt der Direktor des Kieler Instituts, einer bekannten deutschen Wirtschaftsforschungsgruppe. Von nun an finanzieren Regierungen Investitionen, die Unternehmen normalerweise selbst tragen müssten, selbst wenn sie Supergewinne machen. Außerdem stecken sich diese Unternehmen die Gewinne ein, die sie dank der Regierungsinvestitionen mit den neuen Fabriken erzielt haben. Die Ergebnisse dieser Strategie haben wir in Belgien schon erlebt: die Unternehmen stecken die Geschenke ein, aber wenn sie anderswo einen besseren Deal machen können, verlagern sie trotzdem ihren Standort.
Protektionistische Maßnahmen in Europa zu ergreifen, ist ebenfalls nicht ohne Risiko. „Wenn wir zum Beispiel eine Steuer auf den Import von Stahl erheben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass unsere Handelspartner eine Steuer auf die von uns exportierten Fertigprodukte wie Autos, Computer oder Airbus-Flugzeuge einführen. Bevor man es merkt, befindet man sich in einem ‚Handelskrieg'“, warnt Jos Delbeke, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der KU Leuven und ehemaliger Generaldirektor für Klimaschutz bei der Europäischen Kommission. In Bezug auf chinesische Fahrzeuge warnte auch Tommaso Pardi, dass es „schwer vorstellbar ist, dass man ihr kommerzielles Vordringen stoppen kann, zumal China für deutsche Hersteller der bei weitem größte Markt weltweit bleibt.“
Ein Handelskrieg mit China könnte sich in der Tat negativ auf die europäische Industrie auswirken: Audi, BMW, Mercedes und Volkswagen erwirtschaften zwischen 30 und 40 % ihres Umsatzes in China. In der Automobilindustrie wird auch befürchtet, dass China als Reaktion darauf die Lage der europäischen Autohersteller erschweren könnte, indem es zusätzliche Steuern auf den Export von Batterien erhebt, die für die Herstellung von Elektrofahrzeugen in Europa unerlässlich sind. Genau aus diesem Grund lehnt die deutsche Industrie, aber auch die Stellantis-Gruppe, eine Erhöhung der Einfuhrzölle ab. Nachdem die Europäische Kommission beschlossen hat, Zölle auf chinesische Elektroautos zu erheben, hat China übrigens bereits damit gedroht, europäisches Schweinefleisch zu verbieten. Spanien, der größte Schweinefleischproduzent in Europa, wäre am stärksten betroffen, aber auch die belgischen Landwirte würden nicht verschont bleiben. „Wir brauchen keinen neuen Handelskrieg und Spanien will sich konstruktiv an der Suche nach einem Kompromiss zwischen China und der Kommission beteiligen“41, reagierte der spanische Premierminister Pedro Sánchez.
Einen Handelskrieg befürchtet auch der oberste Chef des Chemieriesen BASF : „China ist ein Schlüsselelement, da es bis 2030 die Hälfte des Weltmarkts kontrollieren wird. Drei Viertel des gesamten Wachstums werden dann aus China kommen. Das größte Risiko ist der geopolitische Konflikt zwischen China und den USA, der sich immer weiter verschärft. Wir hoffen auf eine pragmatische Lösung. Die Lösung ist nicht, China in die Enge zu treiben.42„
China entwickelt seine eigene Technologie und hochwertige Produkte
Die USA sind energieautark, technologisch überlegen und verfügen über eine konkurrenzlose Militärmacht. Von dieser Position aus versuchen sie, den Rest der Welt zu unterwerfen. Europa ist nicht in derselben Situation und hat kein Interesse daran, den USA in einer Logik der immer feindseligeren Blöcke zu folgen. Im Gegenteil, Europa läuft Gefahr, viel zu verlieren, wenn es sich wirtschaftlich, politisch, militärisch und international immer mehr den USA unterwirft.
Europa muss seinen eigenen Weg gehen, der auf einer Politik der öffentlichen Investitionen in strategische Sektoren und auf internationaler Zusammenarbeit beruht, abseits der wachsenden Rivalität zwischen den USA und China.
Neun Grundsätze zur Rettung der Industrie in Europa
Wenn wir die Regierungen, die großen multinationalen Konzerne und ihre Experten gewähren lassen, fahren wir gegen die Wand. Die Arbeitswelt braucht ihre eigene Strategie. Seit der Covid-Krise schlagen die Gewerkschaften zu Recht Alarm und fordern eine neue Industriestrategie in Europa:43 „Die neue Industriestrategie für Europa sollte ein Fahrplan sein, um die industrielle Erholung zu beschleunigen und irreversible Schäden an Arbeitsmarkt und Qualifikationen zu vermeiden“. Je mehr Zeit vergeht, desto größer wird das Problem. Bis hin zu einem „existenziellen Problem“, wie es im Draghi-Bericht heißt. Erst seit kurzem warnen eine Reihe von Meinungsmachern vor dem technologischen Rückstand, den der alte Kontinent angehäuft hat.
Aber diese Einsichten sind oft begrenzt, kommen zu spät und vor allem vermissen sie eine Vision und einen Plan, um Europa wieder eine echte Industriepolitik zu verschaffen. Einige Akteure, die mit (neo)liberalen Dogmen gefüttert wurden, glauben immer noch, dass der Markt das Problem lösen wird. Multinationale Konzerne zögern, die notwendigen Investitionen zu tätigen und die technologischen Weichenstellungen von morgen vorzunehmen. Sie ziehen es allzu oft vor, den erwirtschafteten Reichtum für Dividenden zu verschleudern oder Subventionen nachzujagen, ohne wirkliche Strategien zu verfolgen. Der Staat lässt es geschehen und lässt die Schlüssel zur industriellen Zukunft in den Händen multinationaler Konzerne, die bereit sind, dem Kontinent die Investitionen zu entziehen, wenn auf anderen Kontinenten saftigere Gewinne oder üppigere Subventionen winken.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, erfordern eine Zukunftsvision und einen Plan, um sie zu erreichen. Sie erfordern auch ein Überdenken der öffentlichen Maßnahmen, damit diese eine echte Rolle in der neuen Industriepolitik spielen. Die Zeit, in der die großen industriepolitischen Entscheidungen dem Markt und einigen wenigen multinationalen Konzernen überlassen wurden, muss vorbei sein. Die öffentliche Intervention in der neuen Industriepolitik muss sowohl direktiver als auch flexibler sein, damit alle Talente, Energien und Potenziale, die in der Arbeiterklasse, bei Forschern, Ingenieuren usw. vorhanden sind, entwickelt werden können. Im Folgenden entwickeln wir eine Reihe von Prinzipien, um die Industrie in Europa zu retten und zu entwickeln.
Grundsatz 1. „Die Industrie gehört uns!“
„Volkswagen wird den Widerstand ernten, den das Topmanagement gesät hat. Wenn VW wieder die Führung übernehmen will, wird das nicht ohne die Beschäftigten gehen. Mit uns wird es keine Fabrikschließungen oder Massenentlassungen geben. VW muss einen soliden Zukunftsplan vorlegen, die Bürokratie abbauen und eine attraktive Modellpalette entwickeln“. Das ist die Antwort der deutschen Gewerkschaft IG Metall auf eine VW-Führung, die versucht, „Kosten zu senken“, indem sie die Arbeitnehmer für ihre strategischen Fehler bezahlen lässt.
Ob Arbeiter an den Fließbändern, Techniker, die dafür sorgen, dass die Maschinen reibungslos funktionieren, Ingenieure, die industrielle Prozesse optimieren, oder Forscher, die Lösungen für eine nachhaltigere Zukunft erforschen – der industrielle Wandel kann nur gelingen, wenn er unter voller Einbeziehung der arbeitenden Klasse und der Gewerkschaften stattfindet44 45. Wie Roel Berghuis, ein in den Niederlanden bekannter Gewerkschafter, der 2020 den Kampf gegen einen Entlassungsplan des Stahlriesen Tata Steel und für Investitionen in die Zukunft der Stahlindustrie anführte, betonte: „Gemeinsam mit der Gewerkschaft müssen wir die Dinge in die Hand nehmen. Jede Gewerkschaft muss sich viel mehr für die Zukunft ihres Sektors interessieren. Wenn die Gewerkschaft diesbezüglich keine Vision hat, lässt sie zu, dass andere die ihre durchsetzen“46. „Ihr redet nicht über uns ohne uns“, sagt Cihan Lacin, der Roel Berghuis an der Spitze der Gewerkschaft FNV Tata Steel abgelöst hat, in die gleiche Richtung.
In Frankreich warnte die CGT Renault bereits 2020 davor, dass ein erfolgreicher Übergang zur Elektromobilität mit der Produktion von Fahrzeugen einhergehen müsse, die für die Beschäftigten erschwinglich sind. In den Niederlanden hat die Gewerkschaft von Tata Steel die Führung übernommen, indem sie einen Zukunftsplan für die Produktion von grünem Stahl entworfen und damit die veraltete Vision der Unternehmensleitung durchkreuzt hat. Beschäftigte und Gewerkschaften von Audi wiederum versammelten am 16. September 10.000 Menschen auf den Straßen von Brüssel, um eine Zukunft der Industrie zu fordern, die diesen Namen auch verdient.
Der industrielle Wandel kann nur gelingen, wenn die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften daran beteiligt sind
Das Streben der Aktionäre nach kurzfristigen Gewinnen in Verbindung mit dem blinden Vertrauen der Politik in „den Markt“ hat uns in die gegenwärtige Industriekrise geführt. Aktionäre und Politik müssen aufhören Entscheidungen über den Kopf der Arbeiterklasse hinweg, ohne die arbeitende Klasse und letztlich gegen die Arbeiterklasse, zu treffen. Die Botschaft, die am 16. September 2024 gesendet wurde, ist eindeutig: „Die Industrie gehört uns! Wir weigern uns, Opfer von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zu sein, die wir nicht beeinflussen können“.
Grundsatz Nr. 2. Moratorium für jede Schließung von Unternehmen, die für den Übergang wichtig sind
Angesichts der aktuellen Krise in der Industrie müssen wir die industriellen Flaggschiffe des Kontinents schützen, indem wir eine Notmaßnahme ergreifen: ein Moratorium für die Schließung aller Unternehmen, die für den industriellen Wandel von entscheidender Bedeutung sind, sowohl in Belgien als auch in Europa. Man kann multinationalen Konzernen nicht das Recht einräumen, einseitig über die Schließung von Standorten zu entscheiden, die Juwelen der Technologie und Innovation darstellen. Jede Schließung bedeutet nicht nur den Verlust von Arbeitsplätzen, sondern auch den Verlust von unschätzbarem Know-how.
Audi Brussels ist zum Beispiel eine hochmoderne Fabrik die in der Lage ist, alle Arten von Fahrzeugmodellen zu produzieren. Die Beschäftigten, von Arbeitern bis zu Ingenieuren, haben ein außergewöhnliches Know-how angesammelt und sich in über einer Million Stunden weitergebildet, um die Produktion von Elektroautos zu meistern. Vorher stellten sie Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor her. Sie sind daher vielseitig einsetzbar und verfügen über wertvolle Fähigkeiten für die Zukunft der Automobilindustrie. Die Schließung eines solchen Standorts wäre nicht nur ein soziales Drama, sondern auch ein großer strategischer Fehler für die industrielle Zukunft unserer Region. Damit würde das ganze Know-how über die Technologien von morgen verloren gehen.
Grundsatz 3. Große europäische Industrieprojekte
Mehrere große öffentliche oder halböffentliche europäische Projekte haben Wissen, Know-how und Investitionen gebündelt.
Zum Beispiel befindet sich das CERN (Europäische Organisation für Kernforschung), eines der größten und bekanntesten Forschungszentren für Teilchenphysik der Welt, an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich. Es beherbergt den Large Hadron Collider (LHC), einen riesigen Teilchenbeschleuniger, der es Tausenden von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt ermöglicht, die grundlegenden Bestandteile des Universums zu untersuchen. Das Hauptziel des CERN ist es, die grundlegenden Gesetze der Physik zu verstehen. Damit positioniert sich Europa an der Spitze der physikalischen Grundlagenforschung.
Man denke auch an die Europäische Weltraumorganisation, der nicht weniger als zweiundzwanzig europäische Staaten angehören. Sie hat die Entwicklung eines ganzen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen und industriellen Ökosystems ermöglicht und umfasst Projekte wie die Trägerrakete Ariane, das europäische Satellitenpositionierungssystem Galileo und das Programm Copernicus, das sich der Erdbeobachtung widmet, insbesondere zur Überwachung der Umwelt und zur Bewältigung von Katastrophen.
Auch Airbus wurde zu einem Weltmeister der Luftfahrt, indem Frankreich, Deutschland, Spanien und das Vereinigte Königreich von Anfang an zusammenarbeiteten. Das Unternehmen spielt immer noch eine zentrale Rolle in der technologischen und industriellen Entwicklung Europas.
Dazu gehört auch das Projekt zum Bau von Europas größtem grünen Kraftwerk in der Nordsee, das nicht weniger als neun Länder in einer internationalen Kooperationsinitiative zusammenbringt.
Natürlich haben all diese Projekte ihre Grenzen und sind oftmals stark unterfinanziert oder zu sehr dem Privatsektor überlassen, wie es bei Airbus oder dem Windpark in der Nordsee der Fall ist. Dennoch zeigen sie, dass die industrielle und technologische Entwicklung von großen europäischen Industrieprojekten abhängt.
Die Politik, Finanzierungen und Hilfen zu streuen oder der Versuch durch multinationale Konzerne die Staaten gegeneinander auszuspielen, um in jedem Land Zuschüsse zu erhalten, ist eine ineffiziente Strategie und führt zu Verschwendung. Im Januar 2024 versprach Frankreich beispielsweise ArcelorMittal noch mehr staatliche Unterstützung, wenn der Stahlriese in Dünkirchen investieren würde, möglicherweise auf Kosten des Standorts Gent in Belgien. Im Mai desselben Jahres stimmte der belgische Staat als Reaktion darauf zu, die staatlichen Beihilfen im Falle von Investitionen im Standort Gent zu verstärken. Aber all dieser Wettbewerb schafft keineswegs mehr Industrieprojekte, sondern stellt Mitnahmeeffekte für einige multinationale Konzerne dar und kostet die Allgemeinheit letztlich mehr. Ob es um Energie, Mobilität, Wärmedämmung, Gesundheit oder die Digitalisierung der Wirtschaft geht, es ist von entscheidender Bedeutung, Wissen, Know-how und Investitionen rund um große, europäische Projekte zu bündeln und gemeinschaftlich zu steuern.
Wir müssen die industriellen Juwelen des Kontinents schützen
Grundsatz 4. Energie: Die unsichtbare Hand des Marktes durch die entschlossene Hand des States ersetzen
Ohne reichlich vorhandene, billige und grüne Energie ist kein Wandel der Industrie möglich. Dies ist eine der zentralen Herausforderungen, die es zu lösen gilt, und eine wesentliche Grundlage für die industrielle Neuausrichtung.
Der Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien ist „ein drastischer gesellschaftlicher Wandel, der angemessen vorbereitet werden muss“, warnt Elia, der belgische Stromnetzbetreiber, der kürzlich einen Bericht zu diesem Thema veröffentlicht hat. Elia schätzt, dass sich der Stromverbrauch in Belgien bis 2050 mehr als verdoppeln wird. Mit den derzeitigen Produktionskapazitäten in Belgien und den bereits beschlossenen Investitionen kann nur die Hälfte des künftigen Bedarfs gedeckt werden47. Daher „bedarf es rasch einer langfristigen Vision, die den Kurs für die ferne Zukunft vorgibt“, heißt es in dem Bericht. Ohne diese Strategie würde Belgien seine Abhängigkeit von Stromimporten erhöhen, was sich negativ auf die Preise und die Energieautonomie des Landes auswirken würde.
Um dieses dreifache Ziel zu erreichen, mangelt es Europa nicht an Potenzial. Was die Windenergie betrifft, kann sich Europa auf seine Atlantik- und Nordseeküste verlassen. Es kann sich auch – zum Beispiel – auf seine Berge und Flüsse verlassen, wenn es um Wasserkraft geht. Und im Mittelmeerraum zur Nutzung des Potenzials der Sonnenenergie.
In Bezug auf die Erzeugung erneuerbarer Energien ist die Nordsee der größte Trumpf Belgiens und Nordeuropas. Doch wie sich gezeigt hat, halten die Investitionen nicht mit dem Bedarf Schritt. Wir dürfen daher nicht zulassen, dass die Zufälligkeiten des freien Marktes uns bei der Entwicklung dieses Sektors aufhalten. Daher schlagen wir die Gründung eines nationalen öffentlichen Energieunternehmens vor, das zunächst massiv in neue Offshore-Windkraftanlagen investieren soll. Natürlich wird sich ein dicht besiedeltes Land mit schwankendem Klima wie Belgien niemals vollständig mit erneuerbaren Energien versorgen können. Wir müssen daher unsere Bemühungen mit denen der anderen Nordseeanrainerstaaten verbinden. Wenn wir Industrie und Arbeitsplätze in Belgien verankern und eine klimaneutrale Zukunft sichern wollen, sind öffentliche Investitionen und eine öffentliche Preiskontrolle erforderlich. Ab sofort. Die Politik, die Schlüssel zur Energieversorgung in die Hände von multinationalen Konzernen wie Engie Electrabel zu legen, muss beendet werden.
Wir müssen auch die Entwicklung der Technologie für grünen Wasserstoff als strategische Frage betrachten. Wasserstoff wird für die Energiespeicherung, aber auch für die Dekarbonisierung der Industrie benötigt. Es muss genügend erneuerbare Elektrizität erzeugt werden, um Wasser durch Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten, damit es von Unternehmen genutzt werden kann. Unsere Häfen, vor allem der Hafen von Antwerpen mit seinem petrochemischen Zentrum und der Hafen von Gent mit seiner Stahlindustrie, müssen zu Drehscheiben für diese wichtige Technologie werden. Deshalb wollen wir die Entwicklung der Wasserstofftechnologie, die Herstellung und den Transport von Wasserstoff unter öffentliche Kontrolle stellen. Wenn der Staat die gesamte Wasserstoffkette beherrscht, hat er einen starken Hebel, um die Industriepolitik zu lenken.
Grundsatz 5. Der Staat im Mittelpunkt der Infrastrukturentwicklung und der Nachfragestimulierung
Die zweite Grundlage für den industriellen Wandel ist die Entwicklung der Infrastruktur, die für die Industrie von morgen erforderlich ist. Dies betrifft die gesamte Infrastruktur zur Energieerzeugung, einschließlich der Herstellung und Speicherung von Wasserstoff; die Entwicklung eines Netzes von Elektroladesäulen; die Entwicklung eines großen Netzes von Güter- und Hochgeschwindigkeitszügen, städtischen Wärmenetzen; einen Plan zur Wärmedämmung von Gebäuden…
Wir brauchen öffentliche Investitionen und Planung im Energiebereich
Wie Peter Mertens in seinem neuesten Buch <Meuterei> erklärt: „Europa braucht dringend einen Industrieplan mit öffentlichen Investitionen. […] Die Initiative muss nun von der öffentlichen Hand ausgehen, mit einem Plan für öffentliche Investitionen in Energie, Verkehr, Wohnungsbau, Gesundheitsfürsorge und Digitalisierung“.48 Das ist der Plan, den die PTB / PVDA (Belgische Partei der Arbeit) in <Fais le Switch> entwickelt hat. Ein Plan, der im Gegensatz zur derzeitigen Politik steht, die darin besteht, Hilfen und Garantien zu gewähren, um die Rentabilität der Investitionen privater multinationaler Unternehmen zu gewährleisten. Wir wollen das Geld der Allgemeinheit für öffentliche Investitionen verwenden, dass diese Investitionen unter öffentlicher Kontrolle stehen und dass sie die großen sozialen und ökologischen Bedürfnissen unserer Zeit decken.
Durch eine Politik öffentlicher Investitionen könnte der Staat Absatzmärkte für die Industrie sichern und gleichzeitig Sozial- und Umweltstandards durchsetzen. Und das könnte den industriellen Wandel beschleunigen und gleichzeitig die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in der Industrie schützen.
Grundsatz 6. Massiv in Forschung und Entwicklung investieren
„Seit 2000 hat China seine Investitionen in Forschung und Entwicklung verzehnfacht. Heute gibt es dafür jährlich 560 Milliarden US-Dollar aus, kaum weniger als die USA. Die Europäische Union stagniert auf ihren 380 Milliarden US-Dollar.49 Es ist nicht verwunderlich, dass die chinesischen Hightech-Unternehmen immer stärker werden“, erklärt Peter Mertens in <Meuterei>.
Die Europäische Union muss auch massiv in solche Forschung und Entwicklung investieren, die auf einer Vision für die Zukunft beruhen. Der Staat muss die Industrie dazu verpflichten, ihre Gewinne in Innovationen zu reinvestieren, anstatt riesige Dividenden auszuschütten. Man kann nicht gleichzeitig eine große industrielle Wende herbeiführen und Rekorddividenden aufrechterhalten. Die Aktionäre müssen in die Tasche greifen. Auf diese Weise können wir die Industrie auf die Technologien von morgen einstellen und nicht auf die überholten Rezepte der Vergangenheit.
Grundsatz 7. Den Produzenten verbindliche Standards auferlegen, sowohl für das, was produziert wird, als auch für die Art und Weise, wie es produziert wird.
Die kurzfristige Profitgier der europäischen Automobilhersteller hat uns in eine industrielle Krise geführt. Wir müssen sie dazu zwingen, billige Elektrofahrzeuge als Massenprodukt herzustellen und nicht als Nischenprodukt für die Reichen. Denn ohne Massenproduktion ist ein Übergang zu Elektroautos nicht möglich. „Die europäischen Hersteller (…) könnten der Konkurrenz aus China die Stirn bieten, (…) vorausgesetzt, man macht den Fokus auf ein niedrigeres Marktsegment zu einer europäischen Priorität, insbesondere im Hinblick auf die technischen und ökologischen Vorschriften“, so Tommaso Pardi.
Die CGT Renault warb – schon 2020 (!) – in diesem Sinn für – die Produktion von „qualitativ hochwertigen, langlebigen Autos zu einem angemessenen Verkaufspreis und mit niedrigen Nutzungskosten (Verbrauch und Wartung)“. Die Gewerkschaft stellte sogar klar, dass „Elektroautos […] kein Luxus sein [sollten], der den Wohlhabenden vorbehalten ist. Renault kann schnell einen umweltfreundlichen Kleinwagen anbieten, der billig ist und Arbeitsplätze schafft. Dieses von Renault-Ingenieuren und -Technikern konzipierte und konstruierte Auto existiert bereits, es muss nur noch hergestellt werden. Es ist modern, hat ein Design, das anspruchsvollen Sicherheitsanforderungen entspricht, einen unübertroffenen cw-Wert (Luftwiderstand) und damit einen geringen Verbrauch. Es kann an einer normalen Steckdose aufgeladen werden. Mit einer Reichweite von ca. 120 km ist es in der Lage, ohne Subventionen bei den Nutzungskosten mit einem Twingo der Einstiegsklasse für Fahrten zur Arbeit zu konkurrieren50. Das alles zu einem Verkaufspreis, ohne Batterie, von weniger als 10 000 € (+ 25 € pro Monat für die Batteriemiete).“ Vier Jahre später könnten wir technisch und finanziell sogar noch besser abschneiden.
Der Staat sollte die Industrie dazu verpflichten, ihre Gewinne in Innovationen zu reinvestieren.
Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um durchzusetzen, dass Dividenden in den industriellen Fortschritt reinvestiert werden. „Eines ist klar: Volkswagen muss die Kosten in seinen Werken in Deutschland senken. Nur so kann die Marke genügend Geld für zukünftige Investitionen erwirtschaften51„, so die Konzernleitung von Volkswagen. Es ist an der Zeit, die Logik umzukehren. Die Aktionäre müssen die Variable für Haushaltsanpassungen sein, nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die den Wohlstand produzieren. In der Industrie geht es in erster Linie um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht um die Aktionäre. Um in Forschung und Entwicklung von Zukunftstechnologien investieren zu können, muss die Automobilbranche ihre Gewinnspannen und Dividenden nach unten korrigieren.
Und was für die Automobilbranche gilt, gilt für alle Industriezweige. Der Staat muss eingreifen und investieren, um eine Umgestaltung unserer Produktionsprozesse zu erzwingen: Produktion von grüner Energie und grünem Stahl (DRI), Entwicklung einer kohlenstofffreien Chemie usw.
Grundsatz 8. Eine Politik der internationalen Zusammenarbeit auf allen Ebenen: wirtschaftlich, technologisch und akademisch
Indem die USA China als „systemischen Rivalen“ bezeichnen, den es auszuschalten gilt, wollen sie uns immer tiefer in den Konflikt mit China hineinziehen. Aber Europa wird es besser gehen, wenn es diese Logik des Kalten Krieges ablehnt.
Wie Peter Mertens erklärt: „Europa kann ohne eine Diversifizierung der politischen und Handelsbeziehungen nicht blockfrei sein. Je mehr Partner es verliert, desto abhängiger ist es von der einen oder anderen Weltmacht. Anstatt sich in Blöcke und „strategische Allianzen“ einspannen zu lassen, sollten wir uns auf ein möglichst breites Spektrum an Handelsbeziehungen einlassen. Dann werden wir besser gerüstet sein, um den Erpressungen zu trotzen52 und den Bemühungen, Europa von anderen Kontinenten zu isolieren, zu widerstehen.53„
Ohne die Zusammenarbeit mit Ländern, die einen technologischen Vorsprung haben und über wichtige Rohstoffe oder wirtschaftliche Absatzmärkte verfügen, wird der industrielle und klimatische Wandel in Europa nicht möglich sein.
Und schließlich, was die Überkapazitäten in der Produktion und den internationalen Wettbewerb betrifft, müssen wir in Dialog treten und Initiativen ergreifen, wie sie 2016 in der Stahlindustrie ergriffen wurden. In jenem Jahr hatten die 33 größten Stahlproduzenten der Welt ein Globales Forum gebildet, das sich mit Überkapazitäten in der Stahlindustrie befasste. In diesem Rahmen hatte China zugestimmt, seine Stahlproduktionskapazität zwischen 2016 und 2020 um fast 150 Millionen Tonnen zu reduzieren.54
Grundsatz 9. Woher sollen die Mittel für diese Investitionen kommen?
Wie wir gesehen haben, sind massive Investitionen erforderlich, um die Zukunft unserer Industrie zu sichern, Investitionen insbesondere in die Energiewende, die Infrastruktur im weitesten Sinne sowie in Forschung und Entwicklung. Der Bericht von Mario Draghi schlägt geschätzt mehr als 750 Milliarden Euro pro Jahr für die Industrie vor. Die deutschen Arbeitgeber ihrerseits schätzen, dass die Industrie des Landes bis 2030 bis zu 1,4 Billionen Euro investieren muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Herausforderungen in den Bereichen Klima, Energie und Technologie zu meistern.55 Arbeitgeber versuchen jedoch vor allem, öffentliche Gelder anzuzapfen, um private Projekte zu finanzieren – eine Strategie, die sich als erfolglos erwiesen hat.
Hohe Investitionen müssen in eine öffentliche Planung eingebettet sein und sollten in erster Linie für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, insbesondere im Energiebereich, und für die Finanzierung von Forschung verwendet werden. Parallel dazu muss der Staat die multinationalen Konzerne dazu zwingen, ihre Gewinne zu reinvestieren, anstatt sie für unproduktive Dividenden zu verschleudern.
Auf europäischer Ebene sind die Herausforderungen im Bereich der Investitionen gigantisch. Häufig antworten die politischen Entscheidungsträger: „Es gibt kein Monopolygeld.“ Doch wurde in 2008 tatsächlich „Monopolygeld“ gefunden, um die Banken zu retten oder die Militärausgaben unter dem Druck der USA zu erhöhen.
Europa wird es besser gehen, wenn es diese Logik des Kalten Krieges ablehnt.
In Wirklichkeit werden die notwendigen Investitionen viel höhere Kosten verursachen – wenn wir sie nicht tätigen. Ohne sie wird Europa an allen Fronten komplett abgehängt sein: wirtschaftlich, technologisch, klimatisch und sozial. Die Investitionen verzögern wird viel mehr kosten.
Um diese Transformation zu finanzieren, ist es an der Zeit, nach oben zu schauen: die Gewinne der Banken, der multinationalen Konzerne, die Rekorddividenden und die großen Vermögen müssen zur Kasse gebeten werden. Der Staat muss nicht nur die Ressourcen der Ultrareichen mobilisieren, um öffentliche Investitionen zu finanzieren, sondern auch die multinationalen Konzerne zwingen, in den industriellen Wandel zu investieren. Die Politik der Geschenke ohne Gegenleistung muss beendet werden, und multinationale Unternehmen müssen in einen Wirtschaftsplan einbezogen werden. Andere Länder und Kontinente legen ihren Großunternehmen strenge Regeln auf und zwingen sie, eine industrielle Ausrichtung zu verfolgen. Warum sollte Europa nicht das Gleiche tun und industrielle Verpflichtungen an seine multinationalen Unternehmen auflegen?
Anhang: Die alte Leier der zu hohen Löhne
Wie so oft in Krisenzeiten versuchen die Großunternehmer, Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, selbst wenn diese Maßnahmen nichts zu tun haben mit den eigentlichen Herausforderungen56. Pieter Timmermans, Generaldirektor des belgischen Unternehmerverbands, schlug kürzlich vor, „drastische Maßnahmen“ zu ergreifen, um den „Lohnkostennachteil“ zu bekämpfen, den er als Hauptgrund für die derzeitigen Schwierigkeiten der Industrie ansieht57. In einer ähnlichen Linie argumentiert Stefaan Michielsen, Redakteur der Finanzzeitung De Tijd, dass die Krise der Industrie „auf den Anstieg der Lohnkosten zurückzuführen sei, der durch die automatische Indexierung der Löhne verursacht wird“58. Parteien wie die N-VA, CD&V, MR und sogar der Vlaams Belang stimmen in diesen Refrain ein und wiederholen, dass die „Lohnkosten“ für die Industriekrise verantwortlich sind. Der Vlaams Belang geht sogar so weit zu erklären, dass „der entscheidende Punkt nach wie vor die Lohnkosten und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen gegenüber dem Ausland sind. Man darf sich nichts vormachen.59“
Während andere Länder massiv in Forschung, Infrastruktur und Technologie investieren, um in Kernbereichen wie Elektrofahrzeuge und Digitalisierung einen strategischen Vorsprung zu gewinnen, spielen Timmermans & Co. dieselbe abgedroschene Leier über angeblich zu hohe Löhne ab.
Das industrielle Problem in Europa und Belgien liegt jedoch nicht in der Wettbewerbsfähigkeit der Löhne. Bei Audi Brussels machen die Löhne übrigens nur 8 % der Produktionskosten aus60. Geert Bruyneel, ehemaliger CEO von Volvo Cars in Gent, erinnert daran, dass die Löhne in Schweden oder Belgien zwar hoch sind, aber in der Endmontage eines Volvos tatsächlich nur 10 % der Kosten ausmachen und somit nicht die Hauptkosten sind. Eine Situation, die wir in vielen Hightech-Industrien wie der Eisen- und Stahlindustrie oder der Chemieindustrie vorfinden.
Ein kürzlich erschienener Bericht der Nationalbank erklärt sogar, „den makroökonomischen Statistiken zufolge weisen die Bruttogewinnmargen belgischer Unternehmen einen langfristigen Aufwärtstrend auf, der sich seit 2014 deutlich beschleunigt hat. Selbst nach dem Rückgang, der in den neuesten Statistiken seit 2022 zu verzeichnen ist, ist das Niveau dieser Gewinnspannen immer noch sehr hoch.“ Die Nationalbank fügt hinzu, dass diese Margen deshalb so hoch sind, weil „die Lohnkosten deutlich weniger gestiegen sind als die Arbeitsproduktivität, was mit dem Rückgang des Anteils der Löhne am Volkseinkommen zusammenfällt“61.
Die Löhne sind also wirklich nicht das Problem der Industrie. Das Gegenteil ist sogar der Fall, denn einer der Gründe, warum es Belgien besser geht als unseren deutschen Nachbarn – deren Wirtschaft am Rande einer Rezession steht – ist die automatische Indexierung der Löhne. „Dank der Lohnindexierung haben die Belgier weiter konsumiert“, erklärt der ING-Ökonom Carsten Brzeski, der die Konjunktur in den Ländern der Eurozone von Frankfurt aus verfolgt.62 „In Belgien sind die Reallöhne stabil geblieben, während sie in Deutschland derzeit 4 % unter dem Niveau von Ende 2020 liegen. Während die Belgier weiterhin Geld ausgeben können, sparen die deutschen Haushalte immer mehr und konsumieren immer weniger, wodurch sich die wirtschaftliche Lage noch weiter verschlechtert.“
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https://www.rtbf.be/article/le-chinois-nuode-suspend-sonprojet-d-usine-a-dour-un-revers-wallon-qui-en-rappelle-dautres-11431209
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https://www.lesechos.fr/monde/europe/lallemagne-senlise-dansla-crise-et-se-dirige-vers-une-croissance-zero-en-2024-2117412
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https://businessam.be/thyssenkrupp-staaldivisie-ontslagen-aangekondigd/
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https://trends.knack.be/nieuws/macro-economie-beleid/overleeft-deeuropese-staalindustrie/
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DRI = Direct Reduced Iron (direct gereduceerd ijzer)
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https://www.lesechos.fr/industrie-services/industrie-lourde/interrogationsautour-du-plan-acier-vert-de-thyssenkrupp-2123733
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In de woorden van Jeroen Van Lishout, chief operating officer primary van ArcelorMittal België, op een conferentie van het Climate Forum op 3 oktober 2024.
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https://corporate.arcelormittal.com/media/qwghoup1/annual-report-2023_combined.pdf
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https://trends.knack.be/magazine/geert-van-poelvoorde-arcelormittalniemand-heeft-baat-bij-een-zelfvernietiging-van-de-europesestaalindustrie-2/
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https://trends.knack.be/nieuws/macro-economie-beleid/overleeft-deeuropese-staalindustrie/
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https://lavamedia.be/fr/politique-industrielle-europeenne-letat-au-servicedes-multinationales/
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https://www.aspi.org.au/report/critical-technology-tracker
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https://radio1.be/luister/select/de-ochtend/mogelijk-buitenlandseinvesteerders-audi-fabriek-de-europese-auto-industrie-vertraagt
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Martin Brudermüller, voorzitter van de Raad van Bestuur, BASF in deze WPC Executive Conversation, Martin Brudermüller, chairman and CEO of BASF, Discuss petrochemicals market demand, Players.brightcove.net, geciteerd in Peter Mertens, Muiterij, editions Agone, 2024, p. 151
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https://www.solidair.org/artikels/succesvolle-staking-bij-tata-steel-arbeidersen-samenleving-het-een-strijd
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https://www.solidair.org/artikels/hoe-de-vakbond-staalgigant-tata-steeldwingt-om-de-productie-te-vergroenen
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Peter Mertens, Muiterij uitgegeven door EPO, 2023, 49 Peter Mertens, op. cit.
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Blokdenkers zijn politici, industriëlen of intellectuelen die de wereld in antagonistische «blokken» willen verdelen. Het blokdenken leidt de wereld naar een logica die altijd antagonistisch en oorlogszuchtig is.
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Peter Mertens, op. cit. p. 153
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https://www.senat.fr/rap/r18-649-1/r18-649-11.pdf
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BDI, IW, BCG, «Transformation Paths for Germany as an Industrial Nation», september 2024.
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NBB, november 2023, https://www.nbb.be/fr/articles/evolution-des-margesbeneficiaires-des-entreprises-et-inflation
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