15. Januar 2025
Deutsche GeschichteFriedensbewegungUZ - Unsere Zeit

Militarismus verschlingt Europa

Übernommen von Unsere Zeit:

In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre entwickelte sich die deutsche Sozialdemokratie zur stärksten Partei der damals noch jungen Arbeiterbewegung in Westeuropa. Sie wurde zum ideologischen Kampffeld verschiedener politischer Strömungen. Schon mit Beginn jenes Jahrzehnts wuchs außer- und auch innerhalb der damaligen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei der Einfluss des in Berlin lehrenden Professors Eugen Dühring. Der Herr – Spross einer preußischen Geheimsekretärs-Familie – erhob den ausdrücklich gegen die „Partei Marx“, wie sie damals oft genannt wurde, gerichteten Anspruch, eine umfassende neue Theorie der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus geschaffen zu haben.

Friedrich Engels sah sich daher veranlasst, unterstützt von Karl Marx, der wesentliche Teile dieser Schrift beisteuerte, das Werk „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ zu schreiben, das später als „Anti-Dühring“ bekannt wurde. Der „Vorwärts“ als Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei veröffentlichte es gegen heftige Widerstände der Kräfte um Dühring herum in einer Artikelserie in den Jahren 1877 und 1878.

Dies war eine Zeit, in der sich innerhalb des damals noch aufsteigenden Kapitalismus die Herausbildung von Monopolen abzeichnete, die – von Engels noch nicht so benannt – schließlich in die Entwicklung des Imperialismus als neuem und letztem Stadium des kapitalistischen Profitsystems mündete.

Die Entwicklung des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium verändert die Rolle der Gewalt in der Geschichte. Diese Wandlungen in ihren Anfängen begriffen und im Streit mit Dühring erforscht zu haben, macht unter anderem die Aktualität des „Anti-Dühring“ aus.

Teil des dreibändigen Werks von Dühring ist auch eine eigene „Gewaltstheorie“. Darin weist Dühring der Gewalt den Rang einer „Tatsache erster Ordnung“ zu. Das „Primitive“ – im Sinne Dührings das Grundlegende – müsse „in der unmittelbaren politischen Gewalt und nicht erst in einer indirekten ökonomischen Macht gesucht werden“.
Das, so Engels in seiner ausführlichen Replik, stelle die Dinge auf den Kopf. Anknüpfend an Dührings Versuch, das Primäre der Gewalt am Beispiel des Verhältnisses von Robinson Crusoe zu Freitag darzustellen, kommt er zu dem Resümee: „Das kindliche Exempel also, das Herr Dühring eigens erfunden hat, um die Gewalt als das ‚geschichtlich Fundamentale‘ nachzuweisen, es beweist, dass die Gewalt nur das Mittel, der ökonomische Vorteil dagegen der Zweck ist.“

Auf den folgenden Seiten skizziert Engels dann die Entwicklung der Gewalt als Mittel zur Erzielung ökonomischer Vorteile, schildert die Auflösung des alten Gemeinwesens und legt die Fortentwicklung der Klassengesellschaften bis hin zum Kapitalismus dar.

Er arbeitet die Bedeutung der industriellen Basis für die Frage der Entwicklung der Gewalt in der Geschichte heraus und kommt in seiner Polemik zu dem Schluss: „Also der Revolver siegt über den Degen, und damit wird es doch wohl auch dem kindlichsten Axiomatiker begreiflich sein, dass die Gewalt kein bloßer Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommnere das unvollkommnere überwindet; dass ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, dass der Produzent vollkommnerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten der unvollkommneren besiegt, und dass, mit einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also – auf der ‚ökonomischen Macht‘, auf der ‚Wirtschaftslage‘, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln.“ Daran hat sich bekanntlich bis heute nichts geändert.

Engels hat die Kriege, die der Gründung des Deutschen Reiches vorangingen, gründlich studiert. Aber mehr als das. Er legt im Folgenden die sich hochschaukelnde Entwicklung der damals fortschrittlichsten Waffentechnik – der Kriegsflotten – dar und weist auf ein Moment hin, dass – ohne die Ausbeutung als den eigentlichen Zweck der ganzen Gewaltorgien infrage zu stellen – zeitweise die Herstellung von Werkzeugen zur Gewaltanwendung zum eigentlichen Staatszweck werden könne: „Zweitens aber hat dieser Krieg (gemeint ist der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 – M. S.) alle kontinentalen Großstaaten gezwungen, das verschärfte preußische Landwehrsystem bei sich einzuführen, und damit eine Militärlast, bei der sie in wenigen Jahren zugrunde gehn müssen. Die Armee ist Hauptzweck des Staats, ist Selbstzweck geworden; die Völker sind nur noch dazu da, die Soldaten zu liefern und zu ernähren. Der Militarismus beherrscht und verschlingt Europa.“

Dies ist von erschreckender Weitsicht. Der Verlauf der Geschichte nach Engels Tod hat diese Befürchtung erhärtet. Den ihm zugrunde liegenden Zyklus, der einer inneren (Profit-)Logik folgt, haben die Völker Europas nun zweimal durchlitten und stehen am Beginn eines dritten solchen Zyklus. Um das Profitsystem für die eigenen Monopole zu retten, wird vorübergehend die Gewalt vom Mittel zum Selbstzweck. Die Armee, sonst Teil der kapitalistischen Staatsmaschine, wird zu ihrem eigentlichen Kern und Zweck. Im neuen Sprachgebrauch: Alle staatliche Tätigkeit wird der „Kriegstüchtigkeit“ untergeordnet. Die vier Jahrzehnte von 1875 bis 1914 waren in Deutschland angefüllt mit stetig steigender Rüstungslast – bis sich der angehäufte Berg industriell gefertigter Panzerschiffe, Kanonen, Maschinengewehre, Gas- und sonstiger Artilleriegranaten in der Gewaltorgie des Ersten Weltkriegs entlud.

Der zweite Zyklus, in dem die Herstellung der „Kriegstüchtigkeit“ zum eigentlichen Zweck der Staatsmaschine mutierte, war kürzer – Adolf Hitler gab nach Beratungen mit den Industriellen und anderen Teilen der herrschenden Klasse im August 1936 die Aufgabe vor, die „deutsche Wirtschaft“ müsse nicht innerhalb von vier Jahrzehnten, sondern „innerhalb von vier Jahren kriegsfähig sein“. Boris Pistorius knüpft nicht nur in Begrifflichkeit und Zeithorizont an diese Traditionslinie an. Er tut dies auch in seiner Begründung: Der gesamte erste Teil des erwähnten Vierjahresplans vom August 1936 ist der Behauptung gewidmet, die So­wjet­union bereite einen „Überfall auf Europa“ vor. Der Plan wurde, wie wir wissen, vorfristig erfüllt – los ging es nicht erst im September 1940, sondern schon ein Jahr früher und an seinem Ende stand ein verwüsteter Kontinent, in dessen Erde Millionen Tote – verstümmelt, zerschossen, verhungert und oft bis zur Nichtkenntlichkeit vernichtet – begraben und verscharrt lagen. Nun erleben wir – wenn wir es nicht verhindern – den dritten Zyklus, in dem, wie es Engels formuliert hat, die „Armee Hauptzweck des Staats“ zu werden droht. Aber vielleicht trägt ja diesmal die Hoffnung von Engels auf einen Moment des Zusammenbruchs dieses Aufrüstungswahns, die sich zweimal nicht erfüllt hat und die er im „Anti-Dühring“ in die folgende, hier abschließend zitierte Formulierung kleidet: „Und dieser Moment tritt ein, sobald die Masse des Volks – ländliche und städtische Arbeiter und Bauern – einen Willen hat. Auf diesem Punkt schlägt das Fürstenheer um in ein Volksheer; die Maschine versagt den Dienst, der Militarismus geht unter an der Dialektik seiner eignen Entwicklung.“

Wenn uns das in den kommenden vier Jahren gelänge, hätten wir Grund für einige Flaschen guten Champagner.

Axiom: Gesetzte oder akzeptierte Grundlage einer Theorie, die nicht begründet wird.

Von Manfred Sohn

Quelle: Unsere Zeit