Endlich souverän?
Übernommen von CGTN:
Was ist, wenn die vorgestellte Welt eines Menschen in zwei radikal getrennte Sektoren zerfällt: hier die Kräfte des Lichts, dort die Mächte der Finsternis, hier das Gute, die Rettung, dort das abgrundtief Böse, zu dessen Bekämpfung jeder anständig Denkende gerufen ist? Solche bipolare Sichtweise sagt wenig über die reale Welt, die sie zu beschreiben meint. Aber sie sagt viel über denjenigen, der die Welt so betrachtet. Denn sie erzwingt eine klinische Diagnose: Mangel an Souveränität!
Was wäre, wenn die politisch-mediale Klasse Deutschlands, des wirtschaftlich immer noch bedeutendsten Landes Europas, sich eine solche Sichtweise zu eigen machte? Wir wären zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gezwungen: Deutschland, geführt von eben dieser politisch-medialen Klasse, ist kein souverän agierender Staat.
Beim Blick über den Atlantik scheinen deutsche Medienlandschaft und politische Verlautbarungskultur seit Monaten in einem krampfartigen Ausnahmezustand zu verharren – nicht etwa auf Basis souveräner Entscheidung sondern getrieben von innerem Zwang: Kaum ein Beitrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, sofern der auch nur entfernt das Thema berührt, erspart uns die Warnung vor dem „Hassprediger“, dem MAGA-Teufel, der gelbhaarigen faschistischen Gestalt, die in Washington D. C. an die Macht zu gelangen droht. Nahezu Gleiches gilt, mit gelegentlichen Nuancen, für die Leitmedien in den Bereichen von Online und Print.
Selbst wer auf opportunistische Tendenzen nach dem Wahlsieg Trumps über die Lichtgestalt Kamala Harris am 5. November hoffte, wurde enttäuscht: Man könne einen künftigen POTUS, der wir alle Teufel immens rachsüchtig sei, nicht endlos verärgern? Doch, man kann! Seit Jahren – man kann!
Neueren Datums ist nun der Start des Kontrastprogramms: Nach Art des Fuchses im Hühnerstall empfiehlt Elon Musk, reichster Mensch der Welt, Tech-Milliardär und wohl engster Mitarbeiter des künftigen US-Präsidenten, die Partei Alternative für Deutschland (AfD) auf der Plattform X als einzig möglichen Retter aus der deutschen Misere. Die Hühner, nicht tot, doch schmerzhaft angefressen, reagieren mit panischem Flügelschlagen – und mit Verbotsfantasien.
Wie um noch eins draufzusetzen folgt am 9. Januar, ebenfalls auf X, Musks exklusives Interview mit der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel. Letzteres kommt daher als Plauderei Gleichgesinnter. Von der gescheiterten deutschen Energiewende über die katastrophale Einwanderung ins deutsche Sozialsystem bis zur Rolle Israels im Nahostkonflikt: Musk gibt Themen und Thesen vor, Weidel stimmt begeistert zu.
Mancher hatte mehr erwartet: Mancher hatte erwartet, dass auch Trennendes, Problematisches jenseits des Konsens seinen Platz bekommt, weil deutsche und US-amerikanische Interessen eben nicht deckungsgleich sind, und gar nicht sein können. Dies sogar dann nicht, wenn der Teufel Trump und sein Mephistopheles Musk einstmals zu Lichtgestalten werden und, welch schrecklicher Gedanke, eine Alice Weidel Bundeskanzlerin.
Es ist, als ob ein Kind, das gewohnt ist, existentielle Lebensaufgaben an einen transatlantischen Übervater zu delegieren, je nach Haltung einerseits entsetzt aufkreischt über die neue, böse Vaterfigur, andererseits sich dem Neuen rückhaltlos andient, ohne kritische Distanz. Es ist, als ob das deutsche Kind mit beiden Strategien das selbe Ziel verfolgt: getröstet und energisch an die Hand genommen zu werden. Wie wäre es, wenn Deutschland endlich erwachsen würde – endlich souverän?
Michael Schmittbetz, ehemaliger leitender Online-Redakteur für die ARD
Quelle: CGTN