Was ist los in Algerien?
Seit dem 22. Februar füllen sich die Straßen Algeriens fast täglich, die Menschen protestieren gegen das Regime von Abdelaziz Bouteflika. Einen Monat später, am 26. März, sprach sich auch der Armeechef Ahmed Gaïd Salah öffentlich gegen Bouteflika aus. Aufgrund seines Gesundheitszustands forderte er die Anwendung des Verfassungsartikels 102: der Präsident solle als „amtsunfähig“ erklärt und abgesetzt werden. Die Proteste gingen derweil weiter.
Eine Woche danach, am 2. April, kündigte Bouteflika tatsächlich an, zurückzutreten und seiner 20-jährigen Zeit an der Macht ein Ende zu setzen. Doch die eigentliche Nachricht an jenem Tag war nicht sein Rücktritt, sondern die Tatsache, dass die algerische Armee ihre Stimme erhoben hatte, um deutlich zu machen, wer eigentlich das Land regiert: das Militär. Nach sechs Wochen pausenloser Mobilisierungen gab es mit der Ausnahme einiger zaghafter Versprechungen bisher noch keine wesentlichen politischen Veränderungen. Ohne die Intervention des Armeechefs Salah hätte Bouteflika wohl die „Transition zur Demokratie“ noch lange herauszögern können. Vier Wochen lang schaute die Armee tatsächlich nur zu, sie beobachtete die Mobilisierungen und versuchte zu verstehen, wie lange sie aushalten würde. Angesichts der Entschlossenheit und des Anwachsens der Bewegung entschied die Armee schließlich, dass die Zeit zum Handeln gekommen war. Doch fabula docet: Wenn die Armee in autoritäre Regimes eingreift, ist Vorsicht angesagt.
Die Frage heute, am Tag des siebten Freitags in Folge, an dem die Algerier*innen die Straßen besetzen, stellt sich damit neu: Wie wird die Bewegung auf diese Entwicklungen reagieren? Der „Fall des Regimes“ ist erreicht – aber wird die Bewegung nun aber in der Lage sein, in ihrer Vielfalt einen alternativen Vorschlag für den Übergang zur „zweiten Republik“ zu machen? Wird sie in der Lage sein, einen politischen Block gegen die Macht der Armee zu bilden? Die wirkliche Partie beginnt erst jetzt und Antworten auf diese Fragen werden wir erst in den nächsten Tagen erhalten. Doch ein Blick auf die ökonomische Entwicklung Algeriens und auf den gesellschaftspolitischen Charakter der Protestbewegung geben Aufschluss über ihre bis heute an den Tag gelegte Beharrlichkeit.
Eine Wirtschaft kurz vor dem Kollaps
Die Menschen auf den algerischen Plätzen haben sechs Wochen lang den Rücktritt des amtierenden Präsidenten Bouteflika gefordert, doch die Forderungen machen hier nicht halt. Die algerische Bewegung will auch ökonomische und soziale Veränderungen. Denn heute liegt die Arbeitslosigkeit in Algerien nach offiziellen Angaben bei über elf Prozent. Fast jeder zweite Jugendliche ist arbeitslos, wobei fast 54 Prozent der Bevölkerung unter dreißig Jahre alt ist. Die wirtschaftliche Entwicklung basiert ausschließlich auf Erdöl und Erdgas – zwei Produkte, die 97 Prozent aller algerischen Exporte und fast 70 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen.
Algerien ist ein fast perfektes Beispiel für ein Land, das reich an natürlichen Ressourcen ist, aber gleichzeitig auch einen Rückgang der lokalen Industrie und der Exporte anderer Produkte aufweist. Solange die Öl- und Gaspreise hoch oder sogar steigend sind und der Reichtum, auch wenn ungleich, umverteilt wird, kann eine solche sozioökonomische Struktur durchaus überleben. Seit der Wahl von Bouteflika im Jahr 1999 bis 2014 war diese Umverteilungspolitik das wichtigste Instrument des Regimes zur Linderung von sozialen Spannungen. Insbesondere während des arabischen Frühlings 2011 diente sie als politischer Stabilisator.
Die Möglichkeiten der Umverteilung sind dann 2014 kleiner geworden, als die Erdölpreise zusammenbrachen und die staatlichen Einnahmen zurückgingen. Die Reaktion des Regimes von Bouteflika verschärfte die Krise des algerischen Produktionssystems: Der Präsident zapfte die staatlichen Reserven an, was das Staatsdefizit erhöhte, und schränkte den Import ein, um den Rückgang der Exporte auszugleichen.
Das andere große Problem der algerischen Wirtschaft ist der Klientelismus, der eng mit der Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas verbunden ist: Die Ölrendite hat in erster Linie die regierungstreuen Wirtschaftssektoren bereichert. Die Importbeschränkungen haben zudem zur Bereicherung von Großhändlern geführt, die durch ihre privilegierten politischen Beziehungen Einfuhrlizenzen erhielten und monopolistische Positionen aufbauten.
Auch nach der Ölpreiskrise von 2014 hat das Regime keine Strukturreformen zur Diversifizierung der Wirtschaft eingeleitet. Stattdessen wurde Geld im Wert von 20 Prozent des BIP gedruckt, was das Risiko einer Hyperinflation massiv erhöhte. So meinen Experten derzeit: „Algerien ist eine Wirtschaft in Agonie. Die Frage ist nicht, ob sie zusammenbricht, sondern wann“.
Gefahren eines Bürgerkrieges?
Das algerische Regime und einige internationale Beobachter*innen zögerten nach den ersten Wochen der Mobilisierung nicht, Katastrophenbilder zu zeichnen und die Proteste mit dem „arabischen Frühling“ zu vergleichen: Hinter der Bewegung stünde ein Gewaltpotential, welches das Land in den Abgrund stürzen könne. Es handelt sich dabei jedoch um gezielte Panikmache, welche die algerische Bewegung demobilisieren soll. Dafür wurden die Schreckensbilder des algerischen Bürgerkriegs der 1990er Jahre und die jüngsten desaströsen Entwicklungen in Libyen, Syrien und Ägypten herangezogen. Nicht nur das Bouteflika-Regime beruht auf einer langen „politischer Stabilität“, auch die ausländischen Interessen in Algerien, allen voran die französischen, fordern einen „friedlichen Übergang“ zu einer neuen Regierung. Mit anderen Worten: Die Möglichkeiten der neokolonialen Ausbeutung müssen gewährleistet und die Pforten des Mittelmeers hinüber nach Europa müssen den Migrant*innen verschlossen bleiben.
Bei genauerer Betrachtung geben aber sowohl der Charakter der Protestbewegung als auch die Reaktionen des algerischen Regimes Hinweise darauf, dass die Bewegung einen von der „alten Politik“ gesteuerten Übergang zur „Demokratie“ kaum akzeptieren wird. Warum?
Konflikte innerhalb des algerischen Machtapparates
Das Bouteflika-Regime war kein diktatorisches, sondern ein autoritäres Regime mit einer demokratischen Fassade. Die algerische Regierung hat die Freiheiten in Zeiten der Krise politischer Legitimität stets eingeschränkt. Es hat aber gleichzeitig auch immer sozialen Forderungen in Zeiten der „Prosperität“ nachgegeben. Die Protestbewegung ist gewaltfrei und autonom (nicht „vom Ausland gesteuert“) und strebt eine „nationale“ Befreiung an (keine regionalistische oder kommunitaristische). Für das Regime von Bouteflika waren Repression und Gewalt daher keine Optionen; besonders in dieser heiklen Phase des internen Zusammenhalts der Nationalen Befreiungsfront (FLN), also derjenigen Partei, die seit der Befreiung vom französischen Kolonialismus im Jahr 1962 an der Macht ist.
Tatsächlich sind innerhalb des Regimes und des gesamten Machtapparates erhebliche Widersprüche aufgetreten, und dies nicht erst seit dem Aufkommen der Protestbewegung. Seit einigen Jahren vollzieht sich eine Umstrukturierung der internen Machtverhältnisse. Der im Jahr 2016 aufgelöste Nachrichtendienst DRS (Département du Renseignement et de la Sécurité) ist vor einigen Tagen in der Person seines ehemaligen Vorsitzenden und heutigen Generals Mohamed Mediène wieder auf dem politischen Parkett getreten; in den letzten Jahren wurden mehrere Militärgeneräle entlassen und verhaftet. Zudem sind die heftigen Diskussionen in den zwei Regierungsparteien FLN und RND (Rassemblement National Démocratique) Ausdruck der Differenzen innerhalb des gesamten algerischen Machtapparates. Die Ersetzung des Premierministers Ahmed Ouyahia vom RND durch den parteilosen Noureddine Bedoui am 12. März und der Versuch einer Regierungsumbildung unter seiner Leitung am 31. März sind Ausdruck dessen. Die Protestbewegung konnte diese Spaltungen ausnutzen und dank ihrer Entschlossenheit der letzten Wochen gar verschärfen. Ein Teil des Staatsapparats sympathisiert oder unterstützt daher die Bewegung, aber opportunistisch in Hinblick auf eine neue Regierungsbildung.
Eine Generation gegen die „Kultur des Krieges“
Im Moment scheint die Protestbewegung mit der gesamten Generation der Gründerväter Algeriens zu brechen und keine Vermittlung zu akzeptieren, welche eine politische Kontinuität beim Übergang zur „Demokratie“ gewährleisten könnte. Der Slogan „dégagez tous“ (haut alle ab) ist Ausdruck dieses Willens. Die algerischen Proteste zeigen eine beeindruckende politische Reife. Sie lehnen jede Einmischung der imperialistischen Mächte von außen ab. Mächte, die Libyen und Syrien verwüstet und die in bewaffnete Konflikte mit Tausenden und Abertausenden von Toten geführt haben. Nachdem der französische Präsident Macron die Entscheidung Bouteflikas begrüßt hatte, die Präsidentschaftswahlen zu verschieben, antwortete die Bewegung darauf: „Macron, kümmere du dich um deine Gelbwesten“.
Außerdem kann die algerische Bewegung – die hauptsächlich von der jüngeren Generation getragen wird – nicht als „spontan“ bezeichnet werden. Seit Jahren schon kritisieren die Menschen den Mangel an echter politischer Freiheit, die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen durch den neoliberalen Klientelismus und die Unmöglichkeit, ein menschenwürdiges Leben aufzubauen. Zudem haben mehrere Sektoren der Arbeiter*innen in den letzten Jahren gestreikt. Als die Bewegung dann explodierte, waren es eben nicht einfach viele kleine Bewegungen, die schlicht ihre Ablehnung einer fünften Amtszeit von Bouteflika zum Ausdruck brachten. Es handelt sich vielmehr um eine breite und in ihren Forderungen einheitliche Protestbewegung für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Die friedliche Natur der Bewegung und die bis anhin gezeigte Unfähigkeit des Regimes, sie zu unterdrücken, haben Dynamiken der Selbstorganisation freigesetzt. Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sektoren gehen vermehrt selbstorganisiert auf die Straße. Der strategische Versuch der organisierten Arbeiter*innen, sich den Gewerkschaftsbund UGTA (Union générale des travailleurs algériens) wiederanzueignen, könnte eine entscheidende Rolle für den Wandel in Algerien spielen. Sowohl der am 10. März organisierte Generalstreik als auch die Demonstration am 26. März in Tizi Ouzou sind sinnbildlich für diesen Prozess: Die Arbeiter*innen forderten den Abtritt des regierungstreuen UGTA Generalsekretärs Abdelmadjid Sidi-Saïd der nun seit 20 Jahren im Amt ist.
Nebst den Arbeiter*innen sind in den letzten Wochen vor allem die Student*innen und die Frauen als organisierte Kraft aufgetreten. Erstere haben noch am 2. April zum sechsten Mal in Folge Demonstrationen in den größeren Städten des Landes organisiert. In Algier trugen sie ein Transparent mit der Aufschrift mit sich: „Die Menschen wollen ihre eigene Übergangsregierung wählen und ihre eigene verfassunggebende Versammlung bilden“. Die Frauen hingegen haben am 16. März die Erklärung „Algerische Frauen für einen Wandel und die Gleichheit“ lanciert, die dazu aufruft, die Mobilisierungen so lange fortzusetzen, bis das politische System die Gleichheit zwischen den Geschlechtern erkennt und umsetzt. Sie wurde von Aktivistinnen aus dem ganzen Land unterzeichnet.
Die algerische Protestbewegung ist aus einer Generation zusammengesetzt, in der die „große nationale Erzählung“ nicht mehr funktioniert. Es ist eine Generation, die im Jahrzehnt der Gewalt geboren und inmitten tiefer politischer Kontroversen während der Zeit nach dem Bürgerkrieg (1991-2002) aufgewachsen ist; eine Generation, die gelernt hat, inmitten von tausend wirtschaftlichen, politischen und sozialen Widersprüchen zu leben. Und gerade wegen dieser Reife lehnt sie die „Kultur des Krieges“ früherer Generationen ab: Ihr Kampf besteht nicht darin, eine durch Waffen erworbene Unabhängigkeit zu verteidigen, sondern einen neuen gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Raum zu schaffen. Genau darin liegt ihre Stärke.
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