23. Dezember 2024

Die Welt am Scheideweg und das System der internationalen Beziehungen der Zukunft

Beitrag des russischen Außenministers Sergej Lawrow für die Zeitschrift »Russia in Global Politics«

In diesen Tagen wird eine weitere, die 74. Session der UN-Vollversammlung und damit traditionell die internationale politische Saison eröffnet.

Die Session beginnt vor dem Hintergrund eines tief symbolischen historischen Moments. Im nächsten Jahr werden wir große und zusammenhängende Jubiläen feiern – 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, Zweiten Weltkrieg und der Schaffung der Vereinten Nationen. Indem man die geistlich-sittliche Bedeutung dieser Daten begreift, sollte man sich auch an den epochalen politischen Sinn des Sieges im grausamsten Krieg in der ganzen Geschichte der Menschheit erinnern.

Die Zerschlagung von Faschismus 1945 war von grundlegender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte. Es wurden Bedingungen für die Bildung der Nachkriegsordnung geschaffen, deren Tragkonstruktion die UN-Charta war – bis heute die Hauptquelle der Völkerrechtsnormen. Das UN-zentrische System bleibt auch heute stabil, verfügt über ein großes Festigkeitspotential. Das ist eine Art „Sicherungsnetz“, das eine friedliche Entwicklung der Menschheit unter Bedingungen – in vielerlei Hinsicht natürlicher – der Nichtübereinstimmung von Interessen und des Wettbewerbs zwischen den führenden Mächten garantiert. Immerhin nachgefragt ist die in den Kriegsjahren bekommene Erfahrung der entideologisierten Kooperation der Staaten mit verschiedenen sozialwirtschaftlichen und politischen Systemen.

Bedauerlich ist, dass diese offensichtlichen Wahrheiten bewusst verschwiegen, von einigen einflussreichen Kräften im Westen ignoriert werden. Zudem sind jene aktiver geworden, die sich den Sieg aneignen, aus dem Gedenken die Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung von Faschismus auswischen, die Befreiungs-Heldentat der Roten Armee in Vergessenheit verschieben, sich nicht an die vielen Millionen friedlichen sowjetischen Bürger erinnern, die in den Kriegsjahren starben, aus der Geschichte die Folgen der finsteren Politik der Befriedung des Aggressors auswischen wollten. Aus dieser Sicht ist eindeutig das Wesen des Konzeptes der „Gleichheit von Totalitarismus“ zu erkennen. Sein Ziel ist nicht einfach den Beitrag der Sowjetunion in den Sieg zu unterminieren, sondern auch unserem Land retrospektiv seine von der Geschichte bestimmte Rolle des Architekten und Garanten der Nachkriegsordnung wegzunehmen, und danach es als „revisionistische Macht“ zu bezeichnen, die den Wohlstand der so genannten „freien Welt“ bedroht.

Solche Deutung der Vergangenheit bedeutet auch, dass laut einigen Partnern die größte Errungenschaft des Nachkriegssystems der internationalen Beziehungen die Aufstellung der transatlantischen Ankopplung und Verewigung der Militärpräsenz der USA in Europa sein soll. Natürlich ist es gar nicht das Szenario, auf das sich die Verbündeten richteten, als sie die Vereinten Nationen gründeten.

Der Zerfall der Sowjetunion, der Fall der Mauer, die zwei „Lager“ bedingt teilte, die Auflösung der unversöhnlichen ideologischen Konfrontation, die die Konturen der Weltpolitik de facto in allen Bereichen und Regionen bestimmte – diese tektonischen Änderungen führten leider nicht zur Feier der vereinigenden Tagesordnung. Stattdessen waren Triumph-Relationen darüber zu hören, dass das „Ende der Geschichte“ gekommen sei, und es ab jetzt nur das einzige Zentrum der internationalen Beschlüsse geben werde.

Heute liegt es auf der Hand, dass die Versuche, ein unipolares Modell zu sichern, scheiterten. Der Prozess der Verwandlung der Weltordnung wurde unumkehrbar. Neue große Akteure, die über eine nachhaltige Wirtschaftsbasis verfügen, wollen den regionalen und globalen Prozess aktiver beeinflussen, beanspruchen zu Recht eine mehr bedeutende Teilnahme am Treffen der Schlüsselentscheidungen. Die Nachfrage nach einem gerechteren und inklusiveren System nimmt zu. Die Rückfälle der arroganten neokolonialen Herangehensweisen, die den einen Ländern das Recht geben, den eigenen Willen den anderen zu diktieren, werden von einer absoluten Mehrheit der Mitglieder der Weltgemeinschaft abgelehnt.

Das alles löst ein spürbares Unbehagen bei jenen, die sich seit Jahrhunderten daran gewohnt haben, die Muster der Entwicklung der Welt zu bestimmen, wobei man über ausschließliche Vorteile verfügt, aus. Die Anfrage seitens der meisten Staaten auf ein mehr gerechtes System der internationalen Beziehungen, einen realen und nicht deklarativen Respekt der Prinzipien der UN-Charta stößt auf das Streben, die Ordnung aufrechtzuerhalten, in deren Rahmen eine enge Gruppe der Länder und internationalen Korporationen die Früchte der Globalisierung nutzen könnte. Die Reaktion des Westens auf die Situation lässt über seine wahre Weltanschauungsrichtlinien urteilen. Die Rhetorik zum Thema „Liberalismus“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ wird durch die Förderung der Herangehensweisen begleitet, die auf Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Egoismus, Überzeugung von eigener Ausschließlichkeit ruhen.

Der „Liberalismus“, als dessen Schützer sich der Westen positioniert, stellt die Persönlichkeit, ihre Rechte und Freiheiten ins Zentrum. Es stellt sich die Frage: Wie stimmt die Politik der Sanktionen, wirtschaftlichen Erstickung und unverhohlenen Militärbedrohungen gegenüber mehreren unabhängigen Staaten – Kuba, Iran, Venezuela, Nordkorea, Syrien – damit überein? Sanktionen treffen direkt einfache Menschen, ihren Wohlstand, verletzen ihre sozialwirtschaftlichen Rechte. Wie stimmen mit dem Imperativ des Menschenrechtsschutzes die Bombenangriffe gegen souveräne Staaten, ein bewusster Kurs auf die Zerschlagung ihrer Staatlichkeit, der zum Tode von Hunderttausenden führte, Millionen Iraker, Libyer, Syrer und Vertreter anderer Völker zu unzähligen Leiden verurteilte, überein? Das Abenteuer des „arabischen Frühlings“ vernichtete eine einmalige ethnokonfessionelle Mosaik im Nahen Osten und im Norden Afrikas.

Was Europa betrifft, kommen die Kümmerer einer liberalen Idee ziemlich gut mit Massenverletzungen der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in mehreren Länder der EU und ihrer Nachbarn aus, wo Gesetze verabschiedet werden, die die in multilateralen Übereinkommen festgeschriebenen sprachlichen und Bildungsrechte der nationalen Minderheiten grob verletzen.

Was gibt es „Liberales“ in den Visums- und anderen Sanktionen des Westens gegen die Bewohner der russischen Krim? Sie werden für die demokratische Willensäußerung für die Wiedervereinigung mit der historischen Heimat bestraft: Widerspricht das nicht dem Basisrecht der Völker auf die freie Selbstbestimmung, geschweige denn das in den internationalen Übereinkommen festgeschriebene Recht der Staatsbürger auf freie Bewegung?

„Liberalismus“ – in seiner gesunden und unverzerrten Deutung – war traditionell ein wichtiger Bestandteil des globalen, darunter russischen politischen Gedanken. Doch die Vielfältigkeit der Entwicklungsmodelle lässt nicht darüber sprechen, dass der westliche „Korb“ der liberalen Werte alternativlos ist. Natürlich sollen diese Werte nicht mit Gewalt getragen werden – ohne Berücksichtigung der Geschichte der Staaten, ihres kulturellen und politischen Codes. Wozu das führt – das zeigt die Statistik des Unglücks und Zerstörungen als Ergebnis des „liberalen“ Bombenabwerfens.

Aus der fehlenden Bereitschaft des Westens, die heutigen Realien anzunehmen, als er nach Jahrhunderten der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Dominanz die Prärogative der alleinigen Bildung der globalen Tagesordnung verliert, ergab sich das Konzept der „auf Regeln basierenden Ordnung“. Diese „Regeln“ werden entwickelt und selektiv kombiniert je von aktuellen Bedürfnissen der Verfasser des angegebenen Begriffs, den der Westen beharrt implementiert. Das Konzept ist gar nicht spekulativ und wird aktiv umgesetzt. Sein Ziel ist, die universell abgestimmte völkerrechtlichen Instrumente und Mechanismen durch enge Formate auszutauschen, wo alternative, Nicht-Konsens-Methoden der Regelung der jeweiligen internationalen Probleme beim Umgehen der legitimen multilateralen Rahmen ausgearbeitet werden. Mit anderen Worten wird damit gerechnet, den Prozess der Ausarbeitung der Beschlüsse zu den Schlüsselfragen zu usurpieren.

Die Absichten der Initiatoren des Konzeptes der „auf Regeln basierenden Ordnung“ betreffen ausschließliche Vollmachten des UN-Sicherheitsrats. Eines der jüngsten Beispiele: Als die USA und ihre Verbündeten es nicht geschafft haben, den US-Sicherheitsrat zur Billigung der politisierten Beschlüsse zu bewegen, wo der Führung Syriens unbegründet die Anwendung der verbotenen Giftstoffe vorgeworfen wird, begannen sie mit der Durchsetzung der für sie notwendigen „Regeln“ via die OPCW. Via Manipulieren mit existierenden Verfahren als grobe Verletzung der Chemiewaffenkonvention haben sie erreicht, dass dem Technischen Sekretariat der OPCW die Funktionen zur Aufdeckung der Schuldigen bei der Anwendung von C-Waffen verliehen wurden, was eine direkte Invasion in die Prärogativen des UN-Sicherheitsrats ist. Die Versuche, die Sekretariate der internationalen Organisationen zur Durchsetzung der eigenen Interessen außerhalb der Rahmen der universellen zwischenstaatlichen Mechanismen zu „privatisieren“, sind auch in solchen Bereichen wie die biologische Nichtverbreitung, Friedensstiftung, Kampf gegen Doping im Sport u.a. zu erkennen.

In dieser Reihe sind auch die Initiativen zur Regelung der Journalistik, die auf voluntaristische Unterdrückung der Medienfreiheit gerichtet sind, die interventionistische Ideologie der „Verantwortung für den Schutz“, die jede äußere gewaltsame „humanitäre Einmischung“ ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats unter dem Vorwand der Entstehung einer Sicherheitsbedrohung für die zivile Bevölkerung rechtfertigt.

Besonders erwähnt soll ein umstrittenes Konzept der „Bekämpfung des gewaltsamen Extremismus“, der für die Verbreitung von radikalen Ideologien und Erweiterung der sozialen Basis des Terrorismus die politischen Regimes verantwortlich macht, die vom Westen als undemokratisch, nichtliberal bzw. autoritär erklärt wurden. Die Ausrichtung dieses Konzeptes auf die Arbeit direkt mit der Zivilgesellschaft bei Umgehung der legitimen Regierungen lässt keine Zweifel bezüglich des wahren Ziels bestehen – die Anstrengungen im Antiterrorbereich aus der Schutzherrschaft der UNO zu bringen und ein Instrument zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten zu bekommen.

Das Implementieren solcher Neuheiten stellt ein gefährliches Phänomen des Revisionismus dar, das die in der UN-Charta verkörperten Völkerrechtsprinzipien ablehnt und den Weg zur Rückkehr in die Zeiten der Block-Konfrontation verlegt. Nicht umsonst überlegt der Westen offen über eine neue „Wasserscheide“ zwischen der „liberalen Ordnung, die auf Regeln ruht“ und den „autoritären Mächten“.

Revisionismus zeigt sich offen im Bereich strategische Stabilität. Das Torpedieren zunächst des Raketenabwehrvertrags und nun – bei einstimmiger Unterstützung der Nato-Mitglieder – des INF-Vertrags durch Washington schafft Risiken der Demontage der ganzen Vertragsarchitektur im Bereich Raketen- und Atomwaffenkontrolle. Unklar bleiben auch die Aussichten des START-Vertrags wegen einer fehlenden eindeutigen Antwort der US-Seite auf unseren Vorschlag, die Verlängerung des Vertrags nach seinem Ablauf im Februar 2021 zu vereinbaren. Jetzt sehen wir alarmierende Merkmale des Beginns einer Medienkampagne zur Vorbereitung des Bodens für einen endgültigen Verzicht auf Kernwaffenteststoppvertrag (er wurde von den USA nicht ratifiziert) in den USA, was die Zukunft dieses für die internationalen Frieden und Sicherheit sehr wichtigen Dokumentes in Frage stellt. Washington begann mit der Umsetzung der Pläne zur Stationierung von Waffen im All, wobei die Vorschläge abgelehnt werden, ein universelles Moratorium für solche Tätigkeit zu vereinbaren.

Hier ist noch ein Beispiel für revisionistische Regeln: der Austritt der USA aus dem Gemeinsamen allumfassenden Aktionsplans zum iranischen Atomprogramm, des vom UN-Sicherheitsrat gebilligten kollektiven „Vertrag“, der die Schlüsselrolle für die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen spielt. In diese Reihe gehört auch Washingtons demonstrative Weigerung, die einstimmigen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zur palästinensisch-israelischen Konfliktregelung zu erfüllen.

Im Wirtschaftsbereich wurden protektionistische Hindernisse zur „Regel“, die auch Sanktionshebel, Missbrauch mit dem Status des Dollars als wichtigstes Zahlungsmittel, Festigung der Konkurrenzvorteile mit marktfremden Methoden, exterritoriale Anwendung der US-Gesetze, unter anderem gegenüber den nächsten Verbündeten.

Gleichzeitig bemühen sich unsere amerikanischen Kollegen darum, alle ihre ausländischen Partner zwecks Eindämmung Russlands und Chinas zu mobilisieren. Dabei machen sie kein Hehl aus ihrer Absicht, einen Streit zwischen Moskau und Peking zu provozieren, multilaterale Vereinigungen und regionale Integrationsstrukturen in Eurasien und im Asien-Pazifik-Raum, die sich außerhalb der amerikanischen Kontrolle entwickeln, zu zerstören. Sie setzen Länder unter Druck, die nicht nach ihren „Regeln“ spielen und es wagen, die „falsche“ Wahl für Zusammenwirken mit Amerikas „Gegnern“ treffen.

Und was haben wir am Ende? In der Politik lassen sich die Zerstörung des völkerrechtlichen Fundaments, der Mangel an Stabilität, chaotische Aufteilung des globalen Raums, das immer größere gegenseitige Misstrauen internationaler Akteure beobachten. Im Sicherheitsbereich werden die Grenzen zwischen noch nicht gewaltsamen und gewaltsamen Methoden immer undeutlicher, wenn es um das Erreichen von außenpolitischen Zielen geht; die internationalen Beziehungen werden militarisiert; für Atomwaffen wird in US-amerikanischen doktrinären Dokumenten eine immer größere Rolle vorgesehen, wobei die „Schwelle“ für ihren möglichen immer niedriger wird; es entstehen immer neue Konfliktherde; die globale Terrorgefahr ist und bleibt akut; der Cyberraum wird militarisiert. In der Weltwirtschaft beobachten wir immer größere Preisschwankungen auf Märkten; der Kampf um Märkte, Energieressourcen und deren Beförderungswege wird immer verbissener; wir sehen Handelskriege und Zerstörung des multilateralen Handelssystems. Hinzu kommen der Aufschwung von Migrationsprozessen und die Vertiefung der Konflikte zwischen Vertretern verschiedener Nationalitäten und Konfessionen. Brauchen wir aber eine solche „Weltordnung auf Basis von Regeln“?

Vor diesem Hintergrund sind die Versuche westlicher liberaler Ideologen, Russland als „revisionistische Kraft“ darzustellen, einfach absurd. Wir waren eines der ersten Länder, die auf die Transformation des internationalen politischen und wirtschaftlichen Systems verwiesen, das aus objektiven historischen Gründen unmöglich statisch bleiben kann. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Konzeption der Multipolarität der internationalen Beziehungen, die die wirtschaftliche und geopolitische Realität adäquat widerspiegelt, noch vor zwei Jahrzehnten vom herausragenden russischen Staatsmann Jewgeni Primakow formuliert wurde, dessen intellektuelles Erbe auch heutzutage akut bleibt, wenn sein 90. Geburtstag begangen wird.

Die Erfahrungen der letzten Jahre zeugen davon, dass einseitige Methoden zur Lösung von globalen Problemen zum Scheitern verdammt sind. Die vom Westen vorangetriebene „Ordnung“ entspricht nicht den Bedürfnissen einer harmonischen Entwicklung der Menschheit. Sie ist nicht inklusiv und auf eine Revision der wichtigsten völkerrechtlichen Mechanismen ausgerichtet, lehnt kollegiales Zusammenwirken von Staaten ab und ist generell nicht in der Lage, solche Lösungen von globalen Problemen zu generieren, die lebensfähig und langfristig stabil wären und nicht auf einen propagandistischen Effekt im Rahmen einer Wahlkampagne in diesem oder jenem Land ausgerichtet.

Wofür plädiert Russland? Vor allem müsste man mit der Zeit mithalten und das Offensichtliche anerkennen: Die Etablierung der polyzentrischen Architektur der internationalen Beziehungen ist unumkehrbar, auch wenn man versucht, diesen Prozess künstlich zu bremsen (und sogar rückgängig zu machen). Die meisten Länder wollen nicht Geiseln von fremden geopolitischen Absichten sein, wollen eine auf ihre eigenen Interessen orientierte Innen- und Außenpolitik ausüben. Es gehört zu unseren gemeinsamen Interessen, so zu machen, dass sich die Multipolarität nicht nur auf die Kräftebalance stützt, wie das in den früheren Phasen der Weltgeschichte der Fall war (beispielsweise im 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), sondern fair, demokratisch und vereinigend ist, die Vorgehensweisen und Besorgnisse absolut aller Teilnehmer des internationalen Lebens berücksichtigt und eine stabile und sichere Zukunft voranbringt.

Im Westen behauptet man oft, in einer polyzentrischen Welt würden Chaos und Konfrontation wachsen, weil verschiedene Machtzentren nicht imstande wären, sich auf etwas zu einigen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Aber erstens sollte man das wenigstens versuchen – vielleicht klappt es doch? Dafür muss man nur Verhandlungen beginnen, zunächst aber sich darauf einigen, nach einer Interessenbalance zu suchen. Auf jegliche Versuche verzichten, eigene „Regeln“ auszudenken und anderen als absolute Wahrheit aufzudrängen. Künftig die in der UN-Charta verankerten Prinzipien strikt einhalten, vor allem das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten – unabhängig von ihrer Größe, Regierungsform und ihrem Entwicklungsmodell. Es ist ja paradox, wenn Staaten, die sich als musterhafte Demokratien geben, sich um Demokratie nur dann kümmern, wenn sie von diesen oder jenen Ländern verlangen, die Situation bei sich zu Hause im Sinne der westlichen Vorstellungen in Ordnung zu bringen. Aber sobald es sich um Demokratie in den zwischenstaatlichen Beziehungen handelt, vermeiden sie sofort faire Gespräche oder versuchen, die Völkerrechtsnormen im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen zu deuten.

Natürlich geht das Leben immer weiter. Man sollte zwar das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene System der internationalen Beziehungen, dessen Schlüsselelement die UNO ist und bleibt, sorgfältig aufrechterhalten, es aber gleichzeitig vorsichtig, aber konsequent der modernen geopolitischen Realität anpassen. Das gilt voll und ganz für den UN-Sicherheitsrat, wo der Westen ohne richtige Gründe überdimensional vertreten ist. Wir sind überzeugt, dass bei der Reformierung des UN-Sicherheitsrats vor allem die Interessen der Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas berücksichtigt werden sollten, während sich jede Formel auf das Prinzip der maximalen Zustimmung der UN-Staaten stützen sollte. Ähnlich sollte man auch an der Vervollkommnung des internationalen Handelssystems arbeiten und besonders viel Wert auf die Harmonisierung der Integrationsprojekte in verschiedenen Regionen legen.

Man sollte das Potenzial der G20 maximal einsetzen, dieser aussichtsreichen und sehr umfassenden Struktur der globalen Verwaltung, in der die Interessen aller wichtigsten Akteure vertreten sind, während Entscheidungen im Falle der Zustimmung aller Mitglieder getroffen werden. Eine immer größere Rolle spielen auch andere Vereinigungen, die den Geist der wahren, demokratischen Vielseitigkeit widerspiegeln und deren Arbeit die Freiwilligkeit, das Konsensprinzip, die Gleichberechtigung, ein gesunder Pragmatismus und der Verzicht auf Konfrontationen und blockorientierte Vorgehensweisen zugrunde liegen. Dazu gehören die BRICS und die SOZ, an denen sich unser Land intensiv beteiligt und in denen es 2020 den Vorsitz übernehmen wird.

Es ist offensichtlich, dass man ohne richtige Kollegialität, ohne eine entpolitisierte Partnerschaft bei der zentralen koordinierenden Rolle der UNO nicht imstande ist, den Konfrontationsgrad in der Welt zu senken, das Vertrauen zu festigen und gemeinsame Herausforderungen und Gefahren zu bekämpfen. Es ist an der Zeit, sich auf eine einheitliche Deutung der Völkerrechtsprinzipien und -normen zu einigen, ohne zu versuchen, immer wieder diese oder jene Mängel der Gesetze auszunutzen. Es ist schwieriger, Vereinbarungen zu treffen als Ultimaten zu stellen, aber geduldig vereinbarte Kompromisse wären ein viel zuverlässigerer Mechanismus, wenn es um vorhersagbare internationale Beziehungen geht. Diese Vorgehensweise ist heutzutage dringend nötig, um sachliche Verhandlungen über ein zuverlässiges und gerechtes System der gleichen und unteilbaren Sicherheit im euroatlantischen und eurasischen Raum zu beginnen. Diese Aufgabe wurde schon öfter in auf höchster Ebene vereinbarten OSZE-Dokumenten deklariert. Jetzt sollte man Worte mit Taten bekräftigen. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit zeigten sich schon öfter bereit, ihren Beitrag zu solcher Arbeit zu leisten.

Es ist wichtig, friedliche Regelung von zahlreichen Konflikten zu fördern, egal ob im Nahen Osten, in Afrika, Asien, Lateinamerika oder im GUS-Raum. Die Hauptsache ist, dass bereits getroffene Vereinbarungen einzuhalten, ohne dass man versucht, Vorwände auszudenken, um bei Verhandlungen übernommene Verpflichtungen nicht zu erfüllen.

Heutzutage ist vor allem der Widerstand der Intoleranz aus religiösen und nationalen Gründen wichtig. Wir rufen alle Seiten zur gemeinsamen Vorbereitung einer Weltkonferenz für interreligiösen und interethnischen Dialog auf, die im Mai 2022 unter der Ägide der Interparlamentarischen Union und der UNO in unserem Land ausgetragen wird. Die OSZE, die ihre grundsätzliche Position formuliert hat, indem sie den Antisemitismus verurteilt, sollte genauso entschlossen gegen den Christenhass und Islamhass auftreten.

Unsere bedingungslose Priorität ist und bleibt die Förderung der natürlichen Prozesse der Gestaltung der Großen Eurasischen Partnerschaft – eines großen Integrationsraums vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean, an der sich die Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion, der SOZ, des ASEAN und alle anderen Staaten des Kontinents, auch die EU-Länder, beteiligen würden. Es ist kurzsichtig, die Vereinigungsprozesse zu behindern geschweige denn sich voneinander zu trennen. Es wäre ein Fehler, die offensichtlichen strategischen Vorteile unserer gemeinsamen eurasischen Region in der heutigen Welt abzulehnen, in der der Konkurrenzkampf immer intensiver wird.

Die konsequente Bewegung in diese gemeinsame schöpferische Richtung wird nicht nur eine dynamische Entwicklung der nationalen Wirtschaften der Mitgliedsländer fördern und Hindernisse auf dem Weg der Waren, Kapitale, Arbeitskräfte und Dienstleistungen beseitigen, sondern auch ein festes Fundament der Sicherheit und Stabilität auf dem riesigen Territorium zwischen Lissabon und Jakarta bilden.

Ob sich die multipolare Welt durch Kooperation und Harmonisierung der Interessen oder durch Konfrontation und Rivalität gestalten wird, hängt von uns selbst ab. Was Russland angeht, so werden wir eine positive, vereinigende Tagesordnung voranbringen, die sich an der Entfernung von alten und an der Vorbeugung von neuen Trennungslinien orientiert. Unser Land trat mit Initiativen auf solchen Gebieten wie Vorbeugung des Wettrüstens im Weltall, Entwicklung von wirkungsvollen Mechanismen der Terrorbekämpfung, unter anderem im chemischen und biologischen Bereich, Vereinbarung von praktischen Maßnahmen, damit der Cyberraum nicht für Beeinträchtigung der Sicherheit von Staaten oder für kriminelle Zwecke genutzt werden kann.

Unsere Aufrufe zu ernsthaften Gesprächen über alle Aspekte der strategischen Stabilität bleiben in Kraft. In letzter Zeit lassen sich Aufrufe zu einem Wechsel der Tagesordnung, zu einer Erneuerung von Begriffen hören. Man schlägt vor, über „strategische Zusammenarbeit“ (sprich über „multilaterale Eindämmung“) zu reden. Begriffe lassen sich besprechen, aber wichtig sind nicht die Begriffe, sondern ihr Inhalt. Heutzutage ist es am wichtigsten, den strategischen Dialog über konkrete Gefahren und Risiken zu beginnen und eine allseitig annehmbare Tagesordnung zu vereinbaren. Wie ein anderer Staatsmann unseres Landes, nämlich Andrej Gromyko, dessen 110. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, sagte: „Es ist besser, zehn Jahre lang Verhandlungen zu führen als nur einen Tag Krieg.“

Quelle:

Außenministerium der Russischen Föderation

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