Endlose Krise
Die schier endlose Brexit-Saga ist im Moment vor allen dafür gut, die Vielzahl der Baustellen zu verdecken, die sich vor der Europäischen Union auftun, das ganze andere Chaos nicht so sehr sichtbar zu machen, und außerdem dafür, einige Ziele und Absichten unter dem Teppich zu halten.
Auch bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe der »Zeitung« ist weiterhin unklar, wie es nun mit dem Brexit weitergehen soll. Es scheint wahrscheinlich, daß der am Samstag im Londoner Parlament durchgefallene »Deal« noch einmal zur Abstimmung kommt, und es ist ebenso wahrscheinlich, daß Premier Johnson das Abkommen auch diesmal nicht durchkriegt. Was danach kommt, gehört ins Reich der Spekulation. Nicht auszuschließen ist, daß die verzweifelten Abgeordneten des Unterhauses – um eine Neuwahl zu verhindern, bei der sie Gefahr laufen, ihre Mandate zu verlieren – sich für ein zweites Referendum entscheiden, das inzwischen auch von vielen Menschen in Britannien gefordert wird.
Damit würde man dann nach über drei Jahren seit dem Referendum vom Juni 2016 quasi wieder am Ausgangspunkt ankommen. Das würde allerdings auch bedeuten, daß nun erneut das Spiel gespielt wird, das sich in der EU schon einige Male bewährt hat: Bringt eine Volksabstimmung nicht das von den Herrschenden gewünschte Ergebnis, dann muß halt ein wenig Geld in massive Propaganda gesteckt werden, um dem Volk »die Instrumente zu zeigen«, und dann wird noch einmal abgestimmt. Daß das nun auch in Britannien klappen könnte, liegt durchaus im Bereich des Möglichen, denn nach all dem langen Hin und Her haben gewiß viele Leute die Nase voll vom Brexit-Theater, so daß sich durchaus eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU entscheiden könnte. Damit könnten die herrschenden Kreise der EU endlich wieder normal atmen, und auch in Britannien könnte wieder Business as usual einziehen.
Bei all den Debatten um ein Für und Wider des britischen EU-Austritts haben die Interessen der Lohnabhängigen, derer, die die Mehrheit des Volkes bilden, so gut wie keine Rolle gespielt. Im Mittelpunkt der Streitereien standen vielmehr Zollgrenzen – also die Freiheit des Warenverkehrs und der Dienstleistungen, die Zukunft der Londoner Bankenwelt – also die Freiheit des Kapitalverkehrs, aber auch die Zementierung der Teilung Irlands in ein britisch besetztes Nordirland und die Republik Irland. Der Streit ging und geht mitten durch die herrschende Klasse Britanniens, nämlich darum, ob diese Postulate mit oder ohne EU besser garantiert würden.
Auch ohne ein zweites Referendum spricht vieles dafür, daß uns die Brexit-Geschichte noch für einige Zeit erhalten bleibt. Falls es, wie von Johnson angestrebt, doch am 31. Oktober zu einem Austritt ohne Abkommen kommen sollte, werden uns die Medien weiterhin mit all den furchtbaren Folgen eines harten Brexit einen Schrecken nach dem anderen einjagen. Denn auf jeden Fall kommt es darauf an, die abschreckende Wirkung so lange wie möglich auszukosten – auf daß nicht noch einmal jemand auf die Idee kommt, auch noch ausscheren zu wollen.
Zudem sind derartige Schreckensbilder wunderbar geeignet, uns nicht so sehr mit der endlosen Krise zu beschäftigen, mit der fortschreitenden Beschneidung sozialer Rechte in den EU-Ländern, der wachsenden Armut trotz Arbeit, mit der Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, die Klimakrise zu lösen, mit den ins Unermeßliche steigenden Ausgaben für Waffen und Kriege – oder gar mit der Frage, was man mit all den Milliarden Sinnvolles anstellen könnte, wenn man sie nicht für die Aufrüstung verpulvern und damit unser aller Leben gefährden würde.
Uli Brockmeyer
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