Wieder ein Putsch
Die Ereignisse, die am Sonntag zum Rücktritt des Präsidenten Boliviens führten, erfüllen so gut wie alle Kriterien eines klassischen Militärputsches. Evo Morales hatte angesichts des massiven Terrors auf den Straßen, der Befehlsverweigerung von Einheiten der Polizei und der Armee sowie des wachsenden Drucks aus dem Ausland – in erster Linie aus Washington – keine andere Wahl, als den Posten zur Verfügung zu stellen, den er im Ergebnis mehrerer Wahlen eingenommen hatte.
Der erste Präsident indigener Herkunft, mit einer Vergangenheit als prominenter Gewerkschaftsführer, noch dazu als Repräsentant einer Partei namens »Bewegung zum Sozialismus«, war den Oligarchen Boliviens und vor allem den Mächtigen der »freien« westlichen Welt schon lange ein Dorn im Auge. Doch sämtliche Versuche, ihn loszuwerden, waren bisher an der Unterstützung des weitaus größeren Teils der Bevölkerung gescheitert, der Leute, die von Morales nicht als »Señor Presidente«, sprechen, sondern ihn schlicht Evo nennen. Der Leute also, die ihn als einen der ihren betrachten, eben weil er als Gewerkschafter vor allem für die Rechte der Landarbeiter eingetreten ist, und weil er sich und seiner Regierung die Verbesserung der Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen auf die Fahne geschrieben hatte.
Ein Staatspräsident, der die Einnahmen aus dem Reichtum des Landes an Bodenschätzen in erster Linie für den Ausbau der Infrastruktur einsetzt, für Sozialprogramme zur Beseitigung der Armut, muß denjenigen ein Stachel im Fleisch sein, die ohne Rücksicht auf Verluste stets nur die Erzielung von Maximalprofiten im Sinn haben, von Gewinnen, die ausschließlich in die Taschen der wenigen Besitzenden fließen. Es muß für sie mit jedem Tag unerträglicher gewesen sein, zusehen zu müssen, daß der Präsident Boliviens für sie überhaupt nichts übrig hat, und bei jeder Gelegenheit erklärt, daß der Kapitalismus das Übel ist, das unsere Mutter Erde zerstört.
Wieviele Länder in der Welt können darauf verweisen, daß ihre Wirtschaft in den vergangenen Jahren im Durchschnitt jährlich um fast 5 Prozent gewachsen ist? Welches Land kann für sich in Anspruch nehmen, daß – nach Einschätzung der Weltbank, die nicht als Sozialismus-verdächtig gilt – seit Übernahme der Präsidentschaft durch Evo Morales im Jahr 2006 die Armut von 63 auf 36 Prozent zurückgedrängt werden konnte?
Nein, es gab und gibt keinen Sozialismus in Bolivien. Aber die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Staatsführung unter Evo Morales hat eine ganze Reihe von Grundprinzipien des Kapitalismus vorsätzlich mißachtet, um die Erträge aus dem Rohstoffreichtum eben nicht in private Taschen fließen zu lassen, sondern immer mehr Menschen zukommen zu lassen, die von ihrer Hände Arbeit leben.
Mit dem Ergebnis der Wahl vom 20. Oktober, bei der Morales offensichtlich mehr als zehn Prozentpunkte vor seinem rechtsgerichteten Herausforderer abschnitt – so mancher »Wahlsieger« im Westen kann davon nur träumen –, wollte die Reaktion nicht leben. So wurden Unruhen, Überfälle, Mißhandlungen organisiert, der Terror auf die Straßen getragen und schließlich Polizisten und Militärs dazu gebracht, ihren Eid zu verletzen. Evo Morales reagierte als wahrer Staatsmann. Im Gegensatz zu Chiles Präsidenten Piñera, der ein Blutbad riskiert, um seinen Rücktritt und Neuwahlen zu verhindern, kündigte Boliviens Präsident Neuwahlen an und erklärte seinen Rücktritt – um ein Blutbad zu verhindern.
Es wird sich zeigen, ob der Putsch von langer Dauer sein kann. Das letzte Wort hat immer das Volk.
Uli Brockmeyer, Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek