25. November 2024

Álvaro García Linera: Der Hass auf den Indio

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Álvaro García Linera ist Vizepräsident des Plurinationalen Staates Bolivien. Diese Analyse verfasste er für das Centro Estratégico Latinoamericano de Geopolítica (CELAG). Die deutsche Übersetzung stammt von der kubanischen Monatszeitung Granma Internacional.

Wie ein dichter nächtlicher Nebel durchdringt der Hass gierig die Viertel der traditionellen städtischen Mittelschichten Boliviens. Ihre Augen voll angestauter Wut. Sie schreien nicht, sie spucken; sie fordern nicht, sie zwingen auf. Ihre Gesänge sind nicht die der Hoffnung oder Brüderlichkeit, es sind solche der gegen die Indios gerichteten Verachtung und der Diskriminierung. Sie kommen mit ihren Motorrädern, sie steigen in ihre Kleinbusse, sie treffen sich in ihren Karnevalsbruderschaften und privaten Universitäten und sie gehen auf die Straßen, um Indios zu jagen, die es gewagt hatten, ihnen die Macht zu nehmen.

Im Fall von Santa Cruz organisieren sie motorisierte Horden zu 4X4 mit Knüppeln in der Hand, um Indios zu „klatschen“, die sie „Kollas“ nennen und die in den Randbezirken und auf den Märkten leben. Sie singen Parolen wie „man muss Kollas umbringen“ und wenn ihnen unterwegs irgendeine mit einer Pollera bekleidet Frau begegnet, schlagen sie sie und drohen ihr und verlangen von ihr, aus ihrem Gebiet zu verschwinden. In Cochabamba organisieren sie Konvois, um im südlichen Teil der Stadt, wo die bedürftigen Klassen leben, ihre rassische Überlegenheit durchzusetzen und greifen in der Art einer Kavallerieabteilung Tausende von wehrlosen Bauersfrauen an, die für den Frieden demonstrieren. In ihren Händen halten sie Baseballschläger, Ketten und Gasgranaten. Manche zeigen auch offen ihre Feuerwaffen. Die Frau ist ihr bevorzugtes Opfer. Sie schnappen sich eine Bürgermeisterin aus einem Bauerndorf, demütigen sie, treiben sie durch die Stadt, schlagen sie, urinieren über sie, als sie zu Boden fällt, schneiden ihr die Haare ab, drohen sie zu lynchen und als sie bemerken, dass sie gefilmt werden, beschließen sie, sie mit roter Farbe zu übergießen, um ihr so deutlich zu machen, wie sehr sie das nächste Mal bluten wird.

In La Paz misstrauen sie ihren Dienstmädchen und hören auf zu sprechen, wenn diese das Essen an den Tisch bringen. Im Grunde haben sie Angst vor ihnen, aber sie verachten sie auch. Später gehen sie dann auf die Straßen, um Evo zu beleidigen und mit ihm alle Indios, die es gewagt haben, eine interkulturelle Demokratie auf der Basis der Gleichheit zu errichten. Wenn sie viele sind, greifen sie sich die Wiphala, die Fahne der Indigenen, spucken auf sie, treten auf sie, schneiden sie in Stücke, verbrennen sie. Es ist eine tiefsitzende Wut, die sich über diesem Symbol der Indios entlädt, das sie, zusammen mit allem, was diese darin erkennen, von der Erde entfernen möchten.

Der Rassenhass ist die politische Sprache dieser traditionellen Mittelklasse. Alle akademischen Titel, alle durch Reisen erworbene Weltoffenheit und aller Glaube – alles verblasst letzten Endes vor einem Stammbaum.Im Grunde ist die eingebildete Abstammung stärker und sie scheint den irrationalen Gesten und ihrer korrumpierten Moral gegenüber der spontanen Sprache der verhassten Haut anzuhaften.

Alles explodierte an diesem Sonntag dem 20. Oktober, als Evo Morales die Wahlen mit über 10 Prozentpunkten Vorsprung auf den Zweiten gewann; es war aber schon nicht mehr der Vorsprung von früher und es waren auch keine 51 % der Stimmen. Das war das Signal, auf das die lauernden repressiven Kräfte gewartet hatten: der zögerliche Kandidat der liberalen Opposition, die ultrakonservativen politischen Kräfte, die OAS und die unsägliche traditionelle Mittelschicht. Evo hatte erneut gewonnen, aber er hatte nicht mehr 60 % der Wählerschaft hinter sich. Er war schwächer geworden und das musste man ausnutzen. Der Verlierer erkannte seine Niederlage nicht an. Die OAS sprach von „sauberen Wahlen“, aber von einem knappen Sieg. Sie forderte einen zweiten Wahlgang und riet damit, gegen die Verfassung zu verstoßen, in der festgelegt ist, dass, wenn ein Kandidat über 40 % der Stimmen und gleichzeitig über 10 % Vorsprung gegenüber dem zweitplatzierten hat, er gewählt ist.

Und die Mittelklasse strömte auf die Straßen, um Indios zu jagen. In der Nacht auf Montag den 21. wurden in fünf der neun Departements die Büros der Wahlbehörde in Brand gesetzt, Stimmzettel eingeschlossen. Die Stadt Santa Cruz verordnete einen zivilen Streik für die Bewohner des Stadtzentrums, der sich auf die Wohnviertel von La Paz und Cochabamba ausdehnte. Und dann brach der Terror aus.

Paramilitärische Banden begannen Einrichtungen zu überfallen und Gewerkschaftssitze sowie die Wohnhäuser von Kandidaten und politischen Führern der Regierungspartei anzuzünden.An anderen Stellen wurden die Familien, auch die Kinder, entführt und es wurde ihnen angedroht, sie auszupeitschen oder zu verbrennen, wenn ihr Vater nicht als Minister oder Gewerkschaftsführer von seinem Amt zurücktreten würde. Man hatte eine erweiterte Nacht der langen Messer entfesselt und der Faschismus begann seine Fratze zu zeigen.

Als die mobilisierten Kräfte des Volkes mit ihrem Widerstand gegen diesen zivilen Putsch durch die Präsenz der Arbeiter, der Bergleute, der Bauern, der Indigenen und der Stadtbewohner wieder begannen, die Kontrolle über die Stadt zu übernehmen und das Kräfteverhältnis sich hin zur Seite der Kräfte des Volkes neigte, erfolgte die Meuterei der Polizei.

Die Polizisten hatten die ganzen Wochen lang eine große Trägheit und Unfähigkeit an den Tag gelegt, wenn es darum ging, die einfachen Menschen zu schützen, als diese von den faschistoiden Banden geschlagen und verfolgt wurden. Aber ab Freitag zeigten viele von ihnen eine außerordentliche Betriebsamkeit, Demonstranten des einfachen Volkes anzugreifen, festzunehmen, zu foltern und zu töten. Klar, zuvor musste man die Kinder der Mittelschicht zurückhalten, dafür fehlten die Kapazitäten. Jetzt aber, wenn es darum ging, rebellische Indios zu unterdrücken waren der Aufwand, die Arroganz und die repressive Wut enorm.Das gleiche geschah bei den Streitkräften. Während unserer Regierungszeit erlaubten wir nie, dass sie auf die Straßen gingen, um zivile Demonstrationen zu unterdrücken; noch nicht einmal während des ersten zivilen Staatsstreichs von 2008. Und jetzt, in all dieser Turbulenz, und ohne dass wir sie darum gebeten hätten, legten sie uns dar, dass sie für einen Aufruhr nicht ausgerüstet seien, kaum 8 Kugeln pro Soldat hätten und dass, um immer in den Straßen präsent zu sein, man eine präsidiale Verfügung benötigen würde. Trotzdem hatten sie keine Probleme, als sie Evo unter Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung zwingend zum Rücktritt aufforderten. Sie versuchten alles Mögliche, ihn zu entführen, als er sich in Chapare aufhielt und als es zum Putsch kam, gingen sie auf die Straßen und feuerten Tausende von Kugeln ab, militarisierten die Städte und ermordeten Bauern. Und das alles ohne irgendeine präsidiale Verfügung. Um den Indio zu schützen, brauchte man eine präsidiale Verfügung. Um Indios zu unterdrücken und zu töten, genügte es, dem nachzukommen, was der Rassenhass und der Klassenhass befahlen. Und in weniger als fünf Tagen gibt es über 15 Tote und 120 von Schüssen Verletzte. Natürlich alles Indigene.

Die Frage, die wir alle beantworten müssen, ist folgende: Wie war es möglich, dass die traditionelle Mittelklasse so viel Hass und so viele Ressentiments gegen das Volk in sich aufbauen konnte, dass sie so weit geht, einen radikalen Faschismus zu umarmen, in dessen Zentrum der Indio als Feind steht? Wie schaffte sie es, dass ihre Frustration als Klasse auf die Polizei und die Streitkräfte ausstrahlte und selbst die soziale Basis dieser Faschisierung zu sein, dieser staatlichen Regression und moralischen Degenerierung?

Es war die Ablehnung der Gleichheit, die Ablehnung der Fundamente selbst, auf denen eine substantielle Demokratie gründet.

Die letzten 14 Jahre der Regierung der sozialen Bewegungen wiesen als wichtigstes Charakteristikum den Prozess der sozialen Angleichung auf, die abrupte Reduzierung der extremen Armut (von 38 auf 15 %), die Erweiterung der Rechte für alle (universeller Zugang zu Gesundheit, Bildung und sozialem Schutz)die Indianisierung des Staates (über 50 % der Beamten der öffentlichen Verwaltung haben eine indigene Identität, ein neues nationales Narrativ, was den indigene Abstammung angeht), die Reduzierung der wirtschaftlichen Ungleichheiten (ein drastischer Rückgang vom 130fachen auf das 45fache, was den Einkommensunterschied zwischen den Reichsten und den Ärmsten angeht) d.h., die systematische Demokratisierung des Reichtums, der Zugang zu öffentlichen Gütern, zu den Chancen und zur staatlichen Macht. Die Wirtschaft ist von 9 Milliarden Dollar auf 42 Milliarden Dollar gestiegen, der Markt und die internen Ersparnisse wurden erweitert, wodurch es vielen Leuten möglich wurde, ihr eigenes Haus zu haben und eine bessere Arbeit zu finden.

Das aber führte dazu, dass in einem Jahrzehnt der Prozentsatz der Personen, die zur sogenannten Mittelklasse gehören, am Einkommen gemessen von 35 % auf 60 % gewachsen ist. Der größte Teil dieses Zuwachses stammt aus den Sektoren des einfachen Volkes, der Indigenen. Es handelt sich dabei um einen Demokratisierungsprozess der sozialen Güter durch den Aufbau materieller Gleichheit, was aber zu einer schnellen Entwertung des wirtschaftlichen Kapitals, des Bildungskapitals und des politischen Kapitals geführt hat, das die traditionellen Mittelklassen besessen haben. Wenn zuvor ein anerkannter Nachname oder das Monopol des Wissens oder die Gesamtheit der der traditionellen Mittelklasse eigenen verwandschaftlichen Beziehungen ihnen den Zugang zu Posten in der öffentlichen Verwaltung, zum Erhalt von Krediten, Ausschreibungen von Bauten oder Stipendien ermöglicht hat, so hat sich heute die Anzahl der Personen, die für denselben Posten oder dieselbe Chance kämpfen, verdoppelt und damit die Möglichkeiten, an diese Güter zu gelangen um die Hälfte reduziert. Hinzu kommt, dass die „Emporkömmlinge“, die neue Mittelklasse indigenen Ursprungs, eine Kombination von neuem Kapital aufweist (indigene Sprache, Gewerkschaftszugehörigkeit), die im Kampf um die verfügbaren öffentlichen Güter einen höheren Wert und staatliche Anerkennung darstellen.

Es handelt sich also um den Zusammenbruch von etwas, das einst typisch für die koloniale Gesellschaft war: Die ethnische Zugehörigkeit als Kapital, d.h. des eingebildeten Fundaments der historischen Überlegenheit der Mittelklasse über die subalternen Klassen, denn hier, in Bolivien, ist die soziale Klasse nur verständlich und nur sichtbar in Form der rassischen Hierarchien. Dass die Kinder dieser Mittelklasse die Stoßkraft der reaktionären Auflehnung gewesen sind, ist der Gewaltschrei einer neuen Generation, die den Nachnamen und die Hautfarbe als Hinterlassenschaft angesichts der Macht der Demokratisierung der Güter verschwinden sieht. So kommt es, dass sie, auch wenn sie noch das Banner der Demokratie hochheben, was die Wahlstimme angeht, sie sich in Wirklichkeit gegen die Demokratie verschworen haben, unter der man die Angleichung und Verteilung des Reichtums versteht. Deswegen dieser überschäumende Hass, dieser Ausbruch an Gewalt, denn die rassische Überlegenheit ist etwas, das man nicht rational darstellen kann, man erlebt sie als Impuls des Körpers, als Hauttätowierung der kolonialen Geschichte. Von daher ist der Faschismus nicht nur der Ausdruck einer gescheiterten Revolution, sondern paradoxerweise in postkolonialen Gesellschaften auch der Erfolg einer erreichten materiellen Demokratisierung.

Deswegen überrascht es nicht, dass, während die Indios dabei sind, die Leichname von zwanzig von Schüssen ermordeten Toten aufzunehmen, deren materielle und moralische Urheber erzählen, sie hätten dies zur Rettung der Demokratie getan. Aber in Wirklichkeit wissen sie, dass sie es getan haben, um das Privileg der Kaste und den Nachnamen zu schützen.

Der Rassenhass kann nur zerstören. Er ist kein Horizont, er ist nichts anderes als eine primitive Rache einer historisch und moralisch dekadenten Klasse, die beweist, dass hinter jedem mittelmäßigen Liberalen, sich ein vollendeter Putschist verbirgt.

Quelle:

Granma Internacional

Bolivien