Mißachtete Jubilarin
Hehre Ziele hatten sie, die rund 850 Delegierten aus 51 Ländern, die im April 1945 in San Francisco zusammenkamen, um die Charta der Vereinten Nationen fertigzustellen, deren Inkrafttreten vor 75 Jahren noch bis Ende des Monats am UNO-Sitz in New York und weltweit (in einem coronabedingt deutlich reduzierten Umfang) gefeiert wird.
Erstes und herausragendes Ziel der UNO ist es laut dem ersten Absatz des ersten Charta-Artikels, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren«. Es sollen »wirksame Kollektivmaßnahmen« getroffen werden, »um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen«, um »Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken« und »internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen«.
Die Charta schreibt dabei nicht nur den »Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder« fest (Artikel 2, Absatz 1), sondern auch, daß »alle Mitglieder (…) in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt« unterlassen (Artikel 2, Absatz 4). Vielmehr sollen alle Mitglieder ihre internationalen Streitigkeiten »durch friedliche Mittel« beilegen (Artikel 2, Absatz 3), damit das zentrale durch die UNO-Charta geschützte Gut gewahrt bleibt: der »Weltfriede«.
Konsequent verwirklicht wurden die Forderungen des UNO-Gründungsdokumentes leider nie – das zeigt allein die Unfähigkeit der UNO, die jahrzehntelange Besatzung Palästinas durch Israel zu beenden. Die Souveränität und Gleichheit aller ihrer Mitglieder sind jedoch nur selten so mißachtet worden wie heute.
Selten hat es so viele Angriffe auf die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten gegeben wie heute. Sie reichen von der interessengeleiteten Anerkennung »alternativer« Regierungen wie in Venezuela oder zuletzt in Belarus, über die unilaterale Verhängung völkermörderischer Wirtschaftssanktionen und/oder Technologieboykotte wie zum Beispiel gegen Kuba, Iran oder Syrien, bis hin zu militärischen Überfällen ohne UNO-Mandat wie der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999, als Kofi Annan, der damalige UNO-Generalsekretär, von einem »schwarzen Tag für die internationale Staatengemeinschaft« sprach.
Der amtierende UNO-Generalsekretär António Guterres hat recht: »Heute haben wir einen Überschuß an multilateralen Herausforderungen und ein Defizit an multilateralen Lösungen.« Nötig sei deshalb eine effektive Zusammenarbeit mit Visionen und Ehrgeiz, um Menschheitsproblemen wie dem Klimawandel, den (weltweit gesehen) wachsenden Ungleichheiten und Benachteiligungen von Frauen zu begegnen und den Kampf gegen Haß und Armut zu führen.
Ganz ähnlich sehen das die Regierungen der Volksrepublik China und Rußlands, die im Rahmen eines Gipfeltreffens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Moskau die Staaten der Welt erst vor ein paar Tagen zum gemeinsamen Kampf gegen Protektionismus und Hegemoniebestrebungen aufgerufen haben. In ihrer Erklärung wird vor einem »Festhalten an der Mentalität des Kalten Krieges«, einer »Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den Großmächten« und dem »Streben nach eigener Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Länder« gewarnt und zum Erhalt der »grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen« aufgerufen.
Oliver Wagner
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