Kalter Putschversuch in Lissabon
Mit wenigen Ausnahmen, unter denen der britische «The Telegraph» und der schweizerische «Tagesanzeiger» Erwähnung verdienen,[1] wird in den grossen Medien der unerhörte Vorgang in Portugal totgeschwiegen, der dem Versuch zu einem kalten Staatsstreich gleichkommt: Der reaktionäre Staatspräsident Cavaco Silva will die linke Mehrheit im neugewählten Parlament nicht ans Ruder lassen und versucht, dem portugiesischen Volk erneut die von diesem abgewählte Rechtsregierung aufzuzwingen. Damit bricht er einen institutionellen Konflikt vom Zaun und lädt in den letzten Monaten seiner Amtszeit die Verantwortung für alle Entwicklungen auf sich, die daraus folgen mögen.
Eurokratie steht hinter Cavaco
Der eingefleischte Antikommunist Cavaco steht nicht allein bei seinem Versuch, Portugal in gefährliche politische Wasser zu fahren. Auch die Europäische Union versucht mit allen Mitteln, Portugal an seine Rolle als “Musterschüler” anzuketten, der gezähmt worden sei und die Lektionen der “Märkte” begriffen habe. Bereits letzte Woche hatte der frühere EU-Kommissionspräsident und ehemalige portugiesische Premier José Manuel Durão Barroso eindringlich vor einer Linksregierung in seinem Heimatland gewarnt. Inzwischen hat die portugiesische Staats- und Regierungskrise auch die Plenarsitzung des Europäischen Parlaments erreicht. Dort hat Manfred Weber (von der bayrischen CSU) als Fraktionschef der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), gemünzt auf die portugiesischen Kommunisten und den Linksblock, erklärt: «Wir wollen nicht, dass Extremisten die Gesetzgebung beeinflussen. Das ist es, was wir versuchen, und ich bitte, dass die Kollegen in ihren Ländern dasselbe tun.» Der kommunistische EU-Abgeordnete João Ferreira kommentierte Webers Worte so: «Diese Erklärungen sind eine Offenlegung der realen Konzeption von Demokratie» von politischen Führern, «die keine von den eigenen abweichenden Meinungen zulassen». Für den Portugiesen handelt es sich um eine «inakzeptable Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates».[2]
Leitmedien zucken die Achseln
Die vom portugiesischen Staatspräsidenten und der EU-Reaktion gemeinsam ausgeführten unerhörten Schläge gegen die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie in diesem EU-Land werden von den Massenmedien ausgeblendet, verniedlicht oder in ihrer Tragweite verkannt: So als wäre nichts besonderes geschehen, meldet ein führendes deutsches Blatt im Plauderton: «Staatspräsident Cavaco Silva hat den Konservativen Passos Coelho mit der Regierungsbildung beauftragt. Ein linkes Parteienbündnis macht ihm das Leben schwer.»[3] Andere Medien sprechen von einer Sackgasse, oder sehen die Folge, dass «Portugal … dann aber wohl eine politische Blockadesituation drohen» würde, erst dann kommen, wenn die konservative Minderheitsregierung im Parlament durchfällt und Cavaco «das linke Bündnis auch dann noch offensiv ablehnt».[4] Kurzum: Die Referenzpresse geht mit Stillschweigen oder Schulterzucken darüber hinweg, nicht zu sprechen vom Applaus für Cavaco in der NY Times.[5]
Wozu wählt man überhaupt eine Volksvertretung?
Ein Volk wählt sein Parlament, damit dieses Gesetze macht, die Regierung seines Vertrauens bestimmt (und bei der Ausführung der Gesetze kontrolliert), und den Staatshaushalt (einschliesslich Steuern) bewilligt. Das sind die paar Kernkompetenzen einer Volksvertretung in einer parlamentarischen Demokratie, auch nach portugiesischem Verfassungsrecht. Die Budget-Kompetenz ist durch einschneidende EU-Regelungen schon heute und die Gesetzgebung durch erpresserischen Druck von Seiten der externen Gläubiger weitgehend in die Hand von Brüssel und in der Praxis zum Teil geradewegs in die Hand der Gläubiger übergegangen, die sich durch die kollaborationsfreudige Statthalter-Regierung in Lissabon so gut vertreten fühlen, wie durch eine eigene Troika. Jetzt wird einer linken Parlamentsmehrheit willkürlich eine rechte Minderheitsregierung vorgesetzt. Nach vielen vorangegangen Amputationen an den Extremitäten ein erneuter Versuch, den verfassungsmässigen Parlaments- und Volksrechten zu Leibe zu rücken, diesmal ins Tiefe.
Wo bleibt der demokratische Aufschrei der Empörung gegen den Coup?
Angesichts der Schwere der Drohung, die von den Manövern gegen die portugiesische Demokratie auch für alle anderen EU-Länder ausgeht, ist das allgemeine Stillschweigen nicht nur der grossen Presse – deren gezielte “Diskretion” in gewissen Dingen ja nichts Neues ist und zuweilen dicht an die Zensur herankommt – eindrucksvoll, sondern auch die Passivität der starken demokratischen Parteien und Organisationen schier unverständlich, und es bleibt zu hoffen, dass der Sturm der Entrüstung nicht zu lange auf sich warten lässt. Nach aller Erfahrung in verschiedenen Ländern, nacheinander in Frankreich und Holland, dann in Irland und wieder in Griechenland, wo der Volkswille jedesmal von Brüssel mit Füssen getreten wurde, sollte man doch auch bei denen, die früher der EU angehangen haben, erwarten können, dass sie ihre von Brüssel mehr und mehr geschändeten Illusionen in dieses, so und nicht anders gebaute, “Europa” aufgeben. Das Beispiel Portugals bestätigt noch deutlicher, dass die Volksherrschaft – und dies schon beim leisesten Ansatz zu ihrer Verwirklichung – unweigerlich mit der erbitterten Feindschaft Brüssels rechnen muss, weil Demokratie und EU sich in einem unüberbrückbaren und unversöhnlichen Gegensatz gegenüberstehen.
(28.10.2015/mh)
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Noten:
1 The Telegraph: Eurozone crosses Rubicon as Portugal’s anti-euro Left banned from power (23 Oct 2015) und Why Portugal’s constitutional crisis threatens all of Europe’s democracies (26 Oct 2015) – Tagesanzeiger: Die Entsorgung der Demokratie (28.10.2015)
2Expresso (27.10.2015). Das im Original (vermutlich deutsch) nicht greifbare Zitat Weber ist aus diesem portugiesischen Artikel rückübersetzt.
3sueddeutsche.de (27.10.2015)
4zeit.de (27.10.2015)
5 New York Times: Portugal’s President Clears the Way for a New Government (Oct. 22, 2015)
Quelle: kommunisten.ch / RedGlobe