Putsch gegen die Demokratie?
Es fällt schwer zu glauben, dass es sich bei den Ereignissen in Ankara und Istanbul in der Nacht zum Samstag auch nur ansatzweise um den Versuch eines Militärputsches gehandelt hat. Den sogenannten Aufstand von Teilen des Militärs als »dilettantisch organisiert« zu bezeichnen, trifft nicht den wahren Charakter dieser Unruhen. Abgesehen davon, dass viele Soldaten, die Brücken und den Flughafen von Istanbul besetzt hatten, der Meinung waren, es habe sich um eine Übung gehandelt, deutet auch sonst nichts darauf hin, dass irgendjemand ernsthaft die bestehende staatliche Ordnung in der Türkei ändern wollte. Kein einziger General oder Oberst ist als Anführer in Erscheinung getreten, kein Militär hat die angebliche Erklärung im Fernsehen persönlich vorgetragen, es wurde keine einzige politische Zielstellung verkündet, die wichtigsten Repräsentanten des Staates und der Erdogan-Partei AKP blieben nicht nur unbehelligt, sondern konnten offenbar auch ungehindert agieren.
Alle diese und viele weitere Ungereimtheiten lassen sich nur dadurch erklären, dass es in Wirklichkeit kein Putschversuch war, sondern eine vorbereitete Aktion der Kreise um Erdogan, um dessen Gegner – vor allem in der Armee, der Polizei und im Justizapparat – ein für alle mal auszuschalten und die Macht des islamistischen Präsidenten noch unumschränkter zu machen. Außer den einfachen Soldaten, deren Festnahme durch Fotos und Videos dokumentiert ist – und von denen nicht wenige von aufgeputschten Erdogan-Anhängern gelyncht, geschlagen oder gefoltert wurden – dürften die bis zum Montag offiziell gemeldeten fast 9.000 verhafteten Personen kaum irgendetwas mit den Ereignissen der Nacht zu tun haben, auch nicht die Offiziere, die in frisch gebügelten Uniformen kamerawirksam abgeführt wurden.
Die Verhaftungs- und Entlassungswelle war gut organisiert und erfolgte nach schwarzen Listen, die von langer Hand vorbereitet waren. Dass Erdogan und seine Getreuen etliche Widersacher hatten, war lange bekannt. Man brauchte nur einen Vorwand, sie loszuwerden. Ein inszenierter Militärputsch war eine brillante Idee, denn den wollen nicht einmal die erklärten Gegner des gegenwärtigen Regimes – weder die Kommunisten, die kurdischen Befreiungskämpfer oder die Opposition im Parlament. So konnten die Urheber dieser Farce davon ausgehen, dass nicht einmal kleine Teile des Volkes auf die Straße gehen und die angeblichen Putschisten unterstützen würden. Zu deutlich ist immer noch die Erinnerung an frühere – echte – Militärputsche, deren Opfer stets zuerst die politische Opposition war.
Zu erwarten war auch, dass die führenden Politiker des Westens, vor allem der NATO und der EU, einen Militärputsch ablehnen würden – und sich somit de facto auf die Seite Erdogans stellen, und das in aller Öffentlichkeit und Deutlichkeit. Man muss also hier gar nicht mehr die Frage »cui bono?« stellen, sondern darüber nachdenken, wie groß der Nutzen ist, den das System Erdogan für sich verbuchen kann. Und wie scharf die Unterdrückungswelle gegen Andersdenkende, gegen Kurden und andere Minderheiten sich entwickeln wird, die von Erdogan kurzerhand »Terroristen« genannt werden.
Wer jetzt mit Bemerkungen über die »Verteidigung der Demokratie in der Türkei« an die Öffentlichkeit geht, wie zum Beispiel die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident und die Außenminister der EU-Länder, macht sich mitschuldig am zutiefst antidemokratischen Vorgehen im Inneren des Landes und an der völkerrechtswidrigen Kriegspolitik des türkischen Regimes – das alles durch die Festigung der Positionen eines selbstherrlichen Tyrannen, der auf dem besten Wege ist, die Verfassung des Landes auszuhebeln und sich zum Alleinherrscher auf Lebenszeit zu ernennen.
Uli Brockmeyer, Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek