Damit der Felsblock nicht immer wieder ins Tal rollt
In vielen Ländern der Welt werden am 1. Mai Demonstrationen stattfinden, bei denen die gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen ihre sozialen und politischen Forderungen stellen werden.
Auch in Luxemburg war das über Jahrzehnte der Fall, bevor die Demonstrationen größtenteils durch Manifestationen im Saal oder Familienfeste ersetzt wurden. Man könnte das damit rechtfertigen, dass es eher auf den Inhalt denn auf die Form ankommt, aber zwischen Form und Inhalt gibt es immer einen dialektischen Zusammenhang – auch in der Gewerkschaftsbewegung. Wen wundert es da, dass das Tageblatt erst gestern »den Unterhaltungsaspekt des 1. Mai« lobte.
Seit im Jahre 1965 LAV und FLA fusionierten, und mit dem FLA die eigenständigen Strukturen einer revolutionären Strömung aus der Gewerkschaftsbewegung verschwanden, gibt es hierzulande keine Gewerkschaft mehr, die neben ihrem Einsatz für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und größere soziale Rechte, auch für die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und die Inbesitznahme der großen Betriebe und Banken durch die Arbeiter kämpfen würde.
Die Gewerkschaftsbewegung richtete sich zunehmend im Kapitalismus ein. Ausdruck davon ist die Sozialpartnerschaft, die heute die Grundlage aller hiesigen Gewerkschaften ist, die aber, da die Herrschenden glauben, immer weniger Rücksichten auf die Lohnabhängigen nehmen zu müssen, an Rückhalt verliert, weil der Klassenkampf von oben härter wird, so dass inzwischen auch sozialdemokratische und christliche Gewerkschaften – selbst wenn sie den Kapitalismus nicht grundsätzlich ablehnen – gegen dessen »neoliberale« Variante wettern.
Die Betriebe und Wirtschaftsbereiche, in denen das Kapital den Lohnabhängigen Verschlechterungen aufzwang oder es noch tun will, werden eher mehr denn weniger – das Bauwesen und der Pflege- und Sozialbereich sind nur zwei von vielen Beispielen dafür.
Parallel dazu praktizierten die aufeinander folgenden Regierungen eine Umverteilung zugunsten des Groß- und Finanzkapitals und peitschten Sozialabbau und arbeitsrechtliche Veränderungen zu Lasten der Lohnabhängigen durch, ohne dass sich in der Arbeitswelt genügend Widerstand dagegen entwickelt hätte.
Die derzeitige Regierung ist in dieser Hinsicht keinen Deut besser, und das als »Zukunftspak« getarnte Sparpaket auf dem Buckel der Schaffenden wurde nur deshalb zu einem kleinen Teil zurückgenommen, weil die Gewerkschaften, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad, Muskeln gezeigt hatten, und die Regierung befürchten musste, sie könnte bei kommenden Wahlen den Bach hinuntergehen.
Aber ein Großteil des Sparpakets bleibt in Kraft, eine längst überfällige strukturelle Erhöhung des Mindestlohnes bleibt aus, im Pflegebereich sind Verschlechterungen zu befürchten, in vielen Betrieben steigt der Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, und in der Arbeitswelt droht mit der Digitalisierung eine Zunahme der Ausbeutung.
Angesichts dieser Entwicklung braucht die Notwendigkeit von starken Gewerkschaften wohl nicht besonders unterstrichen zu werden. Doch auch heute gilt: Solange die Macht des Kapitals nicht gebrochen wird und die Schaffenden nicht Herr im Hause sind, solange riskiert der Felsblock, den der lohnabhängige Sisyphos den Berg hinaufwälzt, immer wieder ins Tal zu rollen.
Ali Ruckert, Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek