Erklärung der Lagergemeinschaft Auschwitz zum Holocaust-Gedenktag 2021
„Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann wieder geschehen, überall.“ Diese Worte des italienischen Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi aus seinem 1986 veröffentlichten letzten Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ beschreiben mit aller Klarheit seit vielen Jahren die Aufgabe, die sich seit dem Jahrtausendverbrechen des Holocaust stellt. Diese Aufgabe stellt sich nach Auffassung der Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer e.V. (LGA) nicht nur immer wieder neu, sondern in den letzten Jahren mit größerer Dringlichkeit. „Relativierung der NS-Verbrechen, offene und verdeckte antisemitische Haltungen und Äußerungen, Attacken gegen jüdische Menschen, Einrichtungen und Organisationen nehmen an Häufigkeit und Intensität zu“, heißt es in einer Erklärung des Vorstandes der LGA aus Anlass des 76. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. „Sie sind längst nicht mehr nur auf gesellschaftliche Randbereiche beschränkt, sondern werden zunehmend auch im Zentrum der Gesellschaft rezipiert, finden dort Widerhall, werden reproduziert. Antisemitische Stereotype werden in sich wandelnder äußerer Gestalt, wie z. B. der sog. „Israelkritik“ oder dem verdeckten oder offenen Hinweis auf die ‚jüdische‘ Identität eines missliebigen Kontrahenten, auch in Mainstreammedien salonfähig. Kritik an solchen Erscheinungen wird selbst zum Gegenstand antisemitischer Stereotype, indem sie als Unterdrückung von Meinungsfreiheit durch eine angeblich mächtige jüdische Minderheit im Zusammenspiel mit linken und liberalen gesellschaftlichen Kräften gedeutet wird. Dass diese Einstellung in manchen europäischen Ländern bereits wieder in der altbekannten Form der internationalen jüdischen Verschwörung propagiert wird, wie z.B. bei den Anti-Soros-Kampagnen der ungarischen Orban-Regierung, muss als erschreckendes Zeichen an der Wand gedeutet werden“, heißt es weiter in der Erklärung. Es sei daher die Aufgabe aller verantwortlichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland und Europa, solchen Auffassungen, Haltungen und Taten entschlossen entgegenzutreten.
„Der Kampf gegen den zunehmend anschluss- und mehrheitsfähigen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in ganz Europa und weltweit muss mit allen politischen und rechtlichen Mitteln geführt werden, die Verbindungen zwischen diesen Gruppen, die die gesellschaftlichen Träger des alten und neuen Antisemitismus sind, müssen offen gelegt und jede Form der Zusammenarbeit zwischen diesen und bürgerlich-demokratischen Kräften – wie in Thüringen – muss unterbunden werden.“ Zentrale Voraussetzung jeder solchen Strategie sei es, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus aufrecht zu erhalten, deutlich zu machen, dass rechtsextremistische Ideologie und Politik unter keinen Umständen geduldet und gar gefördert werden dürfe, weil sie eben untrennbar mit diesen historischen Verbrechen in Zusammenhang stünden.
„Dazu gehört aber auch, immer und immer wieder an die Opfer der realen, historischen nationalsozialistischen Gewalttaten zu erinnern. Es ist kein Zufall, dass die rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Gruppen ihre Aktivitäten oft gerade auch gegen mühsam erarbeitete und oft gegen viel Widerstand errungene Formen der Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur richten. Damit soll das Fortdauern von Entstehungsbedingungen verschleiert werden. Damit wird aber auch die Würde der Opfer in den Schmutz getreten. Beides gilt es zu verhindern.“
Gleichzeitig stehe die Erinnerungskultur derzeit vor großen Herausforderungen. „Die Zahl der überlebenden Zeugen des Holocaust nimmt ständig ab, die Entwicklung neuer intellektuell herausfordernder und emotional ergreifender Formen des Gedenkens ist eine dringende Notwendigkeit. Auch die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland – ebenso wie die anderen westeuropäischen Länder – zunehmend multikulturell geprägt ist, findet noch zu wenig Berücksichtigung in der konkreten Arbeit in den Gedenkstätten und Erinnerungsorten. Insofern bleiben Primo Levis Worte auch weiterhin Herausforderung und Verpflichtung.“
Quelle: Lagergemeinschaft Auschwitz – Erklärung zum Holocaust-Gedenktag 2021