Für jeden Polizisten eine Blume
Am Vorabend von Kataloniens Nationalfeiertag versammeln sich hunderte von Bürgern und politische Vertreter am Fossar de les Moreres in Barcelona. Unter der ewigen Flamme im historischen Born-Viertel gedenkt man der Bürger, die im Jahr 1714 Barcelona vor den Bourbonen bis zu ihrem letzten Atemzug verteidigten. Damals endete der Kampf um die Freiheit mit einer Niederlage. Die Stimmung an der Gedenkstätte ist feierlich, die Erwartungshaltung der Anwesenden allen Alters hoch: Werden die Katalanen nach dem 1. Oktober ihre Unabhängigkeit zurückerlangen? Der Vertreter der Linksrepublikaner (ERC) im Stadtrat, Alfred Bosch, lässt keinen Zweifel: „Natürlich werden wir abstimmen. Niemand kann uns das Recht auf Entscheidung nehmen. Und wir werden siegen“.
Die Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, haben bis jetzt alle Schritte in Richtung Unabhängigkeit unternommen. Nach einer turbulenten Debatte mit der Opposition, hat das katalanische Parlament letzte Woche mit seiner absoluten pro-Unabhängigkeits-Mehrheit und der Enthaltung einer Linkskoalition, den rechtlichen Rahmen für das am 1. Oktober geplanten Unabhängigkeitsreferendums sowie eine Übergangsverfassung verabschiedet, sollte das „Ja“ gewinnen.
Die spanischen Autoritäten waren vorbereitet. Noch während der Debatte in der katalanischen Kammer hatte die Staatsanwaltschaft bereits eine 34 Seiten lange Anklage gegen das Parlamentsbüro vorbereitet. Das Referendum-Gesetz wurde in einer Eilsitzung vom Verfassungsgericht einstimmig für ungültig erklärt. Inzwischen prüft der Staatsanwalt auch eine Strafverfolgung des katalanischen Präsidenten und seiner Kabinettsmitglieder. Die Vorwürfe reichen von Ungehorsam über Amtsmissbrauch bis hin zum Missbrauch von öffentlichen Geldern, der mit Gefängnisstrafen geahndet werden kann.
Bei all dem wird ein wichtiger Punkt übersehen – der Druck von der Straße hat sich mit den Regionalwahlen 2015 auf die Politik übertragen: im Jahr 2010 waren 14 Abgeordnete im Parlament Kataloniens für die Unabhängigkeit, 2015 gingen aus demokratischen Wahlen 72 Sitze für die Unabhängigkeit hervor. Zudem ist die Präsidentin des Parlaments die ehemalige Vorsitzende der Katalanischen Nationalversammlung, die seit 2012 jedes Jahr hunderttausende Menschen für die Unabhängigkeit mobilisiert. In den letzten Monaten haben diese Abgeordneten unter dem wachsamen Auge gut organisierter Bürgerinitiativen ihr Mandat ausgeführt.
Nach Meinung internationaler Experten, ist zudem die Frage der demokratischen Legitimität, sowohl von katalanischer als auch von spanischer Seite, offen. Und wenn ein politischer Legitimitätskonflikt vorliegt, sei es die Pflicht des Staates, eine verhandelte, politische Lösung zu finden. Das heißt, wenn Premier Mariano Rajoy die Interessen der katalanischen Bürger vertritt, dann sollte das für alle Bürger gelten, besonders für die, die dem Staat nicht mehr vertrauen. Außerdem sollten in einem demokratischen Staat des 21. Jahrhunderts Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimität in Einklang gebracht und deren anhaltende Konfrontation vermieden werden.
Dennoch wird von der spanischen Regierung im Namen der Demokratie und den Interessen „aller Spanier“ die juristische Daumenschraube schon seit Längerem angezogen. Bereits Anfang des Jahres wurden ehemalige katalanische Regierungsmitglieder für die Durchführung der unverbindlichen Volksabstimmung vom 9. November 2014 mit Amtsverbot und Geldbußen bestraft. Zudem ist ihnen die Zahlung der angeblichen Kosten der Umfrage auferlegt worden, fünf Millionen Euro sollen sie bei Gericht hinterlegen. Seit Oktober 2016 standen die Präsidentin des Parlaments und Mitglieder ihres Büros mehrmals vor Gericht. Jetzt hat die Vize-Präsidentin, Sáez de Santamaria, angekündigt, dass auch einzelne Bürger strafrechtlich verfolgt werden können, sollten sie die Vorbereitung des Referendums unterstützen.
Dabei schweißen gerichtliche Paradebeispiele, Klagewellen und desproportionale Polizeiaufgebote die Bürgern noch mehr zusammen: Die Antwort der Gemeinden auf ein aktuelles Warnschreiben des Verfassungsgerichts sind mehr als 800 Bürgermeister, darunter auch Sozialisten, die sich zur Bereitstellung von Wahllokalen verpflichtet haben. Bei der Durchsuchung einer Druckerei und einer Redaktion, die angeblich Material für das Referendum vorbereiteten, versammelten sich spontan hunderte von Bürgern und legten vor den Polizisten der spanischen Guardia Civil, die die Lokale bewachten, rote Nelken nieder. Mehr als 30.000 Katalanen haben sich bereits als Wahlhelfer bei der katalanischen Regierung beworben. Die Solidaritätskassen für die Bußgelder füllen sich und jeder Politiker, der ein Dekret für das Referendum unterschreibt, und damit seinen Hals und sein Privatvermögen auf das Spiel setzt, ist bereits heute ein Held.
Der Stadtrat Alfred Bosch fragte gestern Nacht rhetorisch die aufmerksame Menge am Fossar de les Moreres: „Was machen wir, wenn die Guardia Civil kommt?“ – „Wir schenken ihnen Blumen. Und wenn sie mit hunderten von Wagen kommen, bedecken wir diese mit hunderten von Blumen“.
Wenn die spanische Regierung ihre Einschüchterungsoffensive fortsetzt und das im Namen der Demokratie, riskiert sie nicht nur in Katalonien ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Barcelona, 11. September, Krystyna Schreiber