Solidarität ist keine Einbahnstraße
Auch unter den Schaffenden gibt es Stimmen, die der Meinung sind, die 80/80/90-Regelung, nach der Berufsanfängern im öffentlichen Dienst in ihren ersten beiden Stage-Jahren nur noch 80 Prozent und im dritten Jahr nur 90 Prozent des Gehalts bezahlt werden, gerecht ist. Demnach wäre die seit Monaten von der CGFP mit Nachdruck erhobene Forderung nach Abschaffung dieser Vergütungsregelung für Stagiaires im öffentlichen Dienst überzogen.
Doch die Staatsbeamtengewerkschaft weist völlig zu Recht darauf hin, daß einem Berufsanfänger, von dem von Anfang an voller Einsatz verlangt wird, auch von Anfang an das volle Gehalt zusteht. Außerdem hat sich die CGFP im Rahmen der Verhandlungen über die Dienstrechtsreform nur deshalb auf diese Regelung eingelassen, weil die Regierung ihr zugesichert hat, gleichzeitig werde das Praktikum für Staats- und Gemeindediener umfassend reformiert.
Damals hatten die Interessenvertreter von mehr als 30.000 öffentlich Bediensteten vorgeschlagen, aus dem Stage eine regelrechte Ausbildung mit einem theoretischen Teil am Anfang, einer Integrationsphase, einem praktischen Teil und einer abschließenden Autonomiephase zu machen. Doch tatsächlich gibt es bis heute nicht die Spur einer Reform. Stagiaires im öffentlichen Dienst sind nichts anderes als billige Arbeitskräfte.
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß die 80/80/90-Regelung in den Südgemeinden bisher noch nicht umgesetzt wurde, obwohl die drei Parteien der Regierungskoalition zumindest bis zu den Kommunalwahlen dort in den meisten Gemeinderäten eine Mehrheit hatten.
Doch die Vergütungsregelung für Stagiaires war nicht der einzige Grund, warum der Nationalvorstand der Staatsbeamtengewerkschaft in diesem Jahr außergewöhnlich früh zu seiner ersten Sitzung zusammenkam. Kritisiert wird auch die schleppende Umsetzung des Gehälterabkommens. Auch ein Jahr nach seiner Unterzeichnung läßt ein Großteil der ausgehandelten Verbesserungen noch immer auf sich warten, weil die Mehrheitsparteien in der Chamber den entsprechenden Gesetzentwurf erst im September auf den Instanzenweg geschickt haben, so daß er nicht mehr rechtzeitig vor dem Jahresende verabschiedet werden konnte. So ist auch die Anpassung des Punktwerts um 1,5 Prozent, die zum 1. Januar 2018 hätte in Kraft treten sollen, in Verzug geraten.
Aus Sicht der Gesamtheit der Schaffenden ist der Gewerkschaft der Staatsbeamten vor allem hoch anzurechnen, daß sie die Forderung nach Abschaffung der 80/80/90-Regelung im öffentlichen Dienst von Anfang an mit der Forderung nach einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns verknüpft hat. Bereits im Mai vergangenen Jahres, als die CGFP ihre Forderung nach Abschaffung der Vergütungsregelung für Stagiaires im öffentlichen Dienst das erste Mal vortrug, betonte ihr Präsident Romain Wolff, es könne nicht sein, daß jemand, der Vollzeit arbeitet, zusätzlich zu seinem kargen Lohn noch Sozialhilfe beim Staat oder bei seiner Gemeinde beantragen müsse, um ein würdevolles Leben führen zu können.
Damit hat die CGFP unter Beweis gestellt, daß Solidarität für sie keine Einbahnstraße ist.
Oliver Wagner
Aus: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek