20. Dezember 2024

»Wir akzeptieren nicht das Ende der Geschichte«

pcvInterview der SDAJ-Zeitschrift »Position« mit Carolus Wimmer, internationaler Sekratär der KP Venezuelas, zu taktischen Bündnissen und internationalem Widerstand

POSITION: Die Verfechter einer multipolaren Welt sagen, es sei erstrebenswert mehrere, einander gegenüberstehende Machtblöcke auf der Welt zu haben, zwischen denen die Macht verteilt ist. Die Vorstellung ist, dass dies ein Kräftegleichgewicht mit sich bringt und die Welt friedlicher wird. Wie stehst du zu dieser These?

Carolus: Uns wurde in den 90er Jahren, nach dem Sieg der Konterrevolution, also dem Verlust der sozialistischen Länder, gesagt, das sei „die Wende“. Aber was steckt dahinter? Das sind Worte, die keinen Inhalt haben. Uns, der Welt, wurde damals gesagt: die Sowjetunion existiert nicht mehr, der Kalte Krieg ist vorbei, die USA sind übrig geblieben, wir leben ab sofort in einer „unipolaren Welt“, wie das zum Beispiel von Fukuyama in dem Buch „Das Ende der Geschichte“ beschrieben wurde.

In der unipolaren Welt gibt es natürlich keine Kriege mehr, weil der Sieger nicht mit sich selbst kämpfen kann. Aber wie wir sehen bedeutet dieser momentane Sieg des Kapitalismus weiter Krieg und weiter Klassenkampf. Wir dürfen weder den nationalen noch den internationalen Klassenkampf negieren. Der revolutionäre Umschwung in Venezuela ist nicht zufällig, sondern ist Produkt der totalen kapitalistischen Krise in Venezuela. Ihr gingen Jahre des Widerstands gegen brutale, neoliberale Maßnahmen vorraus. In den 90er Jahren sprach man allein in Caracas von 500.000 obdachlosen Kindern.

Darum wurde in Venezuela schnell verstanden, dass diese unipolare Welt eben keinen Frieden im eigentlichen Sinne bringt, höchstens den romanischen Frieden, in dem die USA über alles herrschen und keinen Widerstand dulden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen der Gegenwehr, nach Massenprotesten, die niedergeschlagen wurden mit schätzungsweise 4000 Toten unter der sozialdemokratischen Regierung von Carlos Andrés Péres in den neuziger Jahren und zwei gescheiterten Militärrevolten wurde schließlich 1998 der Kommandant Hugo Chávez Frías zum Präsidenten gewählt. Damit begann ein revolutionärer Prozess.

Wir als Kommunistische Partei bezeichnen diese Etappe als nationale Befreiung. Selbst heute muss jedem klar sein, dass unsere Souveränität nicht gesichert ist. Darum die Etappe der nationalen Befreiung, die aber dialektisch parallel verläuft mit dem Kampf für Sozialismus. Es sind keine verschiedenen Etappen, sondern der antiimperialistische Kampf wird begleitet vom Kampf für soziale Gerechtigkeit und für den Sozialismus. In dieser revolutionären Etappe, in der wir leben, ist natürlich das Thema der taktischen und strategischen Bündnisse von besonderer Wichtigkeit.

Begonnen wurde in Lateinamerika mit einem Einverständnis speziell zwischen dem Genossen Fidel Castro und dem Präsidenten Comandante Hugo Chávez Frías. Von diesen zwei Genossen ging der Aufbau eines neuen Verständnisses von internationalen Beziehungen aus. Das hieß raus aus dem kapitalistischem Verständnis des reinen Geschäftes, wo natürlich der Stärkere den Schwächeren besiegt, hin zu einem Verständnis der Solidarität. Deshalb wurde das erste Bündnis in Lateinamerika aufgebaut, das Bündnis der ALBA-Länder.

POSITION: Bei der Beschreibung imperialistischer Staaten und vor allem deren Verhältnis zueinander wird oft das Bild einer gleichzeitigen Kooperation und Konkurrenz, in der sich imperialistische Staaten befinden, benutzt. Wie positioniert ihr euch dazu? Wie ist die beginnende lateinamerikanische Solidarität, die ja primär gegen den US-Imperialismus gerichtet ist, damit umgegangen, dass sich ja auch andere, imperialistische Staaten gegen für ihre Emanzipation kämpfende Staaten richten und ihnen bestenfalls taktierend, im schlimmsten Fall aggresiv gegenüber stehen? Wie vermeidet man da Illusionen in taktischen Bündnissen?

Carolus: Das ist natürlich vereinfacht, das sieht man an den Beziehungen zu den USA und zu Europa. Historisch gibt es in Lateinamerka auch Illusionen. Man sieht generell Europa mit einem freundschaftlicheren Auge als die USA. Aber zweifellos haben beide dieselben Interessen der Ausbeutung der Völker und der Ausbeutung auch speziell der Bodenschätze. Die USA verfolgen mit ihrem Konzept „Amerika für die Amerikaner“ eine Taktik, um eben auch die Teilhabe und den Einfluss von europäischen Bündnispartnern, die ja auch Konkurrenten sind, in Lateinamerika zu unterbinden. Trotzdem unterscheiden wir in der Politik des nationalen Befreiungskampfes zwischen taktischen und strategischen Alliierten. Europa, oder einige europäische Länder, spielen im Moment die Rolle von taktischen Alliierten. Sie sind kapitalistische, imperialistische Staaten, aber in einem Konkurrenzkampf mit den USA. So unterhält zum Beispiel Frankreich weiterhin Handelsbeziehungen, Wirtschaftsbeziehungen mit Venezuela, obwohl die USA die Devise der totalen Blockade ausgibt und Sanktionen gegen Venezuela verhängt. Der grundsätzliche, imperialistische Konkurenzkampf wird also auch im Fall von Venezuela sichtbar und kann mit Vorsicht auch taktisch genutzt werden, er muss sogar taktisch genutzt werden.

POSITION: In was für einem Verhälnis steht der Kampf um Fortschritt und für Sozialismus in Venezuela mit der venezuelanischen Außenpolitik?

Carolus: Es ist bei dieser aggressiven Politik gegen Venezuela mit einer totalen Blockade natürlich logisch, dass man neue Bündnispartner sucht und die wurden auch von der Regierung von Chávez schnell gefunden. Das bedeutete erstmal die Aktivierung der OPEC-Länder, der ölproduzierenden Länder. Zwischen diesen Ländern gab es 2001 ein großes, historisches Gipfeltreffen zum ersten Mal in der Geschichte, um die Preise des Erdöls zu diskutieren. Man spricht von historisch, weil Chávez erreicht hat, dass Staatsleute, die sich gegenseitig im Nahen Osten bekriegen, nach Caracas kamen und eine gezielte Politik zur Verteidigung des Erdöl-Preises diskutierten, was der Verteidigung eines gerechten Erdöl-Preises diente. Dann gab es natürlich die sofortigen Beziehungen zu Cuba. Cuba war eine entscheidende Stütze, bis jetzt, aber v.a. in den Anfangsjahren, in der Bekämpfung der Armut, durch die Erziehungsprogramme und durch die Hilfe im Gesundheitswesen. Es kamen mehrere zehntausend cubanische Ärztinnen und Ärzte nach Venezuela und halfen direkt in dem neuen Verständnis der Menschenrechte.

Die Menschenrechte auf Gesundheit, Bildung und Arbeit existieren ja nicht im bürgerlichen Staat. Das neue Verständnis der Menschenrechte bedeutet, dass jeder kostenlos Zugang zum Gesundheitswesen und zur Erziehung bekommt. Über Venezuela hinaus gab es dann die ersten Beziehungen mit anderen lateinamerikanischen Ländern, was total neu war. Das kann man nur schwer verstehen, aber vorher gab es praktisch sehr wenig Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Staaten untereinander, was ganz im Sinne der USA war. Es kamen aber auch neue Alliierte hinzu wie zum Beispiel China, wie zum Beispiel Russland, wie die islamische Repulik Iran, oder auch Indien. Das ist natürlich ein Beweis, dass der Plan der unipolaren Welt nicht unwidersprochen bleibt, es ist der Ansatz einer multipolaren Welt, die uns half zu überleben. Das ist eine Allianz, die stark ist, aber natürlich in den Medien als Allianz der Schurkenstaaten beschrieben wird.

POSITION: Was ist dein Ausblick? Wie geht es weiter?

Carolus: Es gibt auf Solidarität basierte Bündnisse wie etwa ALBA, aber auch Una Sur oder Petro Caribe, das ist ein Handelsbündnis, das speziell auf Erdölhandel mit den karibischen Ländern ausgrichtet ist. Diese Bündnisse sind ganz klar gegen die Dominanz der USA in ihrem „Hinterhof“ Lateinamerika gerichtet sind. Da sind wir weit vorangekommen, aber in den letzten Monaten und speziell im letzten Jahr gab es Rückschläge, durch Niederlagen bei Wahlen und neue Putsche in einigen Ländern. Niederlagen wie zum Beispiel in Argentinien und Putsche wie zum Beispiel bei der Wahl in Honduras. Honduras wollte ALBA beitreten und die Antwort der USA war der Militärputsch gegen den Präsidenten. Dann gab es einen Putsch im Parlament in Paraguay. Der Präsident dort war ein Bischof, ein Geistlicher, kein Revolutionär, der einfach für soziale Gerechtigkeit kämpfte und dem ALBA-Bündnis beitreten wollte. Die Strafe war ein Putsch gegen ihn, er wurde illegal abgesetzt vom Senat.

Das alles berührt auch das Thema des Kräfteverhältnisses und der Macht, denn man sieht daran, dass es nicht ausreicht wenn man nur die Regierung stellt und der Kapitalismus kontrolliert noch den größten Rest der Institutionen. Dann ist natürlich keine Kraft da um sich zu verteidigen. Dabei ist das eine mindestens genauso große Aufgabe: Eine Revolution nicht nur anzufangen, sondern sie auch zu verteidigen. Es gab Rückschläge in der letzten Zeit, die müssen aber verkraftet werden im politischen, im revolutionären Kampf. Man lebt nicht nur von Siegen, man erfährt natürlich auch Niederlagen, die analysiert und überstanden werden müssen. Aber wir sind zuversichtlich, dass das nur zeitlich begrenzte Niederlagen bleiben werden, weil in den letzten zwei Jahrzehnten ein großes Bewusstsein in der Arbeiterklasse, in der breiten Bevölkerung aufkam und aufkommt, die es möglich machen werden, weiter zu kämpfen, also nicht das Ende der Geschichte zu akzeptieren.

Das Interview führte Tatjana, Rostock

Quelle:

SDAJ – Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend

 

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