29. November 2024

Hintergründe und Lösungsperspektiven des Ukraine-Krieges

Übernommen von Bundesausschuss Friedensratschlag:

Positionspapier des Bundesausschusses – Juni 2022

-> PDF-Fassung

Die Hoffnungen vieler nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine friedlichere Welt haben sich nicht erfüllt. Durchgängig herrschte in den letzten Jahren in über 30 Ländern weltweit Krieg. Wirtschaftliche Er­pres­sungs­politik, Blockaden und Handelskriege zerstö­ren weltweit ökono­mische und ökologische Existenz­grund­lagen. Immer mehr Menschen sind wegen Krieg, Armut und Umweltzerstörung auf der Flucht. Mit der Ukraine kam ein weiterer Krieg hinzu, mit drama­tischen Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt.

Um diese verhängnisvolle Entwicklung zu wenden, müssen wir zurück zu den friedenspolitischen An­sätzen der 1970er und 1980er Jahre und den mit konkreten Abkommen verbundenen Bestrebun­gen in den 1990er Jahren nach Ende des Kalten Krieges, die durch die Expansionspolitik der NATO zu Grabe getra­gen wurden. Eine Entspannungspolitik und Sicher­heits­architek­tur, die die Sicherheitsinteressen aller Konfliktparteien berücksichtigt, ist alternativlos. Ange­sichts gigantischer globaler Probleme – Hunger und Elend, soziale Ungleichheit, Erderwärmung und Arten­sterben, Verseuchung von Böden, Flüssen und Meeren – sind Krieg und Aufrüstung unver­antwortlich. Ohne internationale Zusammenarbeit und die Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel sind die globalen Probleme nicht zu lösen.

Sicherheit für uns Menschen kann nicht durch Hochrüstung und militärische Interventionen erreicht werden, sondern nur durch eine gerechte Politik und nachhaltiges, vorausschauendes Handeln. Ein Streben nach Dominanz, unfaire Handelsbeziehungen und die poli­tisch geschaffene immer größere Kluft zwischen Arm und Reich stehen dem diametral entgegen.

Wir sind für eine neue Politik der Zusammenarbeit statt Konfron­tation, für eine Friedenspolitik der vertrauensbildenden Maßnahmen, die zu Entspan­nung und Abrüstung führt, zu einem System gemein­samer Sicherheit und kontrollierter Abrüstung in Europa und weltweit, für eine Friedenspolitik, wie sie 1990 mit der Charta von Paris und folgenden Ab­kommen angestrebt worden war.

Statt der Berufung auf eine westlich definierte regel­basierte Ordnung fordern wir die Beachtung des Völkerrechts von allen Seiten und ein Ende der Doppel­moral.

Krieg zwischen NATO und Russland

Krieg als Mittel der Politik lehnen wir grundsätzlich ab. Wir haben uns stets entschieden dafür eingesetzt, Krieg als Mittel der Politik zu verhindern, auch bei dem Konflikt zwischen NATO, Ukraine und Russland. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist daher ein Rückschlag für alle, die sich für Frieden engagiert haben – und gleichzeitig eine Herausforderung für die Friedensbewegung, ihre Bemühungen für zivile Lösungen zu intensivieren. Nicht zu viel Entspannungs­politik ist das Problem gewesen, sondern zu wenig.

Als Bürger:innen eines NATO-Staates richten wir unsere Kritik in erster Linie an die NATO-Staaten. Denn der Krieg hätte verhindert werden können und müssen. An eindringlichen Warnungen, auch von zahl­reichen führenden westlichen Außenpolitikern und Experten, dass die Missachtung essentieller Sicher­heitsinteressen Russlands eine solche Reaktion provozieren könnte, hat es nicht gefehlt. Wir weisen zudem die Doppe­lmoral zurück, mit der ausgerechnet die Regierungen der USA und ihrer Verbündeten den russischen Ein­marsch als Völkerrechtsbruch an­pran­gern, sich als Richter aufspielen und härteste Sank­tionen verhä­ngen, nachdem sie selbst verheerende An­griffskriege geführt und Völkerrecht gebrochen haben.

Dieser Krieg in Europa ist wie alle anderen zuvor eine Katastrophe, vor allem für die direkt Betroffenen. Die Regierung der Russischen Föderation hat damit eine Zäsur in ihren Beziehungen zum Westen vollzogen. Statt sich weiter auf diplomatischem Wege um einen

Abbau der Spannungen und um Sicherheitsverein­barungen zu be­mühen, verschärfte sie nun durch ihr militärisches Vorgehen selbst die Konfrontation. Die NATO-Staaten halten frontal dagegen und eskalieren sie durch ihre massive militärische und propagan­distische Unterstützung Kiews und einen umfassenden Wirt­schaftskrieg weiter.

Auf diese Weise handelt es sich nicht nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sondern ‒ wie Reaktionen der NATO-Staaten auf den Krieg klar erkennen lassen ‒ um einen hybriden Krieg der NATO gegen Russland. Die Stellungnahmen ihrer führenden Politiker:innen lassen auch keinen Zweifel am Ziel, den geopolitischen Rivalen entscheidend und dauer­haft zu schwächen, zu ruinieren, wie es u.a. Außenministerin Baerbock ausdrückte.

Die USA und ihre Verbündeten würden daher den Wirtschaftskrieg vermutlich auch dann nicht beenden, wenn sich die russischen Streitkräfte aus den seit 24. Februar besetzten ukrainischen Gebieten zurückziehen würden, sondern gemäß US-Außenminister Blinken und seiner britischen Kollegin Liz Truss erst, wenn garantiert sei, dass Russland zukünftig keine solche Offensive mehr unternehmen kann.1

In der Auseinandersetzung in und um die Ukraine überlagern sich zwei zentrale Konfliktfelder – zum einen das Konfliktpotential, das durch den chaotischen Zerfall der Sowjetunion entstand, wodurch territoriale und Minderheitenfragen ungelöst blieben, und zum anderen der Kampf der USA und ihrer Verbündeten um den Erhalt der Dominanz des Westens in der Welt, die sie seit 500 Jahren auf unterschiedliche Weise ausüben.2

Dieser Krieg wird nicht nur auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung geführt, sondern faktisch auf dem Rücken der ganzen Welt, insbesondere auf dem der ärmeren Länder und Bevölkerungs­gruppen.

Er ist militärisch aktuell weitgehend noch auf das Territorium der Ukraine und auf konventionelle Waffen beschränkt, auf wirtschaft­licher Ebene tobt er jedoch unbegrenzt. Es ist zunehmend auch ein kultureller Medien- und Informationskrieg, der alle Aspekte unseres täglichen Lebens betrifft.

Der Weg in den Krieg

Im Westen wurde von Beginn des russischen Einmarschs an seine Vorgeschichte medial aus­geblen­det: das herrschende Narrativ heißt, Putin strebe nach Wiederherstellung des Zarenreichs oder der Sowjetunion.

Wer Frieden will, und wer Opfern helfen und neues Leid vermeiden will, der sollte die Genesis von Kon­flikten und Kriegen zur Kenntnis nehmen.

Tatsächlich ist der Krieg Russlands eine Antwort auf die von der Friedensbewegung seit langem kritisierte NATO-Osterweiterung und westliche Aufrüstungs- und Konfrontationspolitik, von der sich Russland zunehmend existenziell bedroht fühlt. Sie begann bereits in den 1990er Jahren mit der Ausweitung der NATO ‒ entgegen klarer, verbindlicher Zusagen gegen­über Moskau, das Militärbündnis keinen Zoll nach Osten auszuweiten, und entgegen rechtlich bindender Vereinbarungen wie dem Vertrag zur Deutschen Einheit, in der zukünftigen Friedensordnung die Sicher­heits­interessen eines jeden beidseitig zu berück­sichtigen.

Die Ostexpansion ging einher mit der Missachtung und Kündigung von Abkommen zur Rüstungs- und Statio­nierungs­kontrolle durch die USA und NATO, und wurde von einer Reihe Farb-Revolutionen in ehema­li­gen Sowjetrepubliken begleitet, in denen pro-russische oder zu unabhängige Regierungen mit westlicher Unterstützung ge­stürzt wurden. Nach dem Umsturz in Jugoslawien im Jahr 2000, der als Blaupause diente, folgten Georgien (2003), Ukraine (2004) und Kirgisien (2005).

1999 hatte die NATO militärische Interventionen ohne UN-Mandat zum festen Bestandteil ihres strategischen Konzepts gemacht. Und schließlich unterstrichen die USA und ihre Verbündeten mit ihren Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen ihre Bereit­schaft, sich in der Verfolgung ihrer geopoli­tischen und wirtschaftlichen Interessen skrupellos über UN-Charta und Völkerrecht hinwegzusetzen.

Die von den Herrschenden der USA damit verfolgte Strategie wurde bereits 1992, in einer an die New York Times durchgestochenen Version der Verteidigungs­richtlinien des Pentagons (Defense Planning Guidance) so zusammengefasst: Jede in Frage kommende feind­liche Macht muss daran gehindert werden, in einer Region dominant zu werden, die für unsere Interessen von ausschlaggebender Bedeutung ist.3 Sie blieb Be­standteil aller nachfolgenden Strategiepapiere und richtet sich nun verstärkt auch gegen China. Wir sind in einem Wettstreit um den Sieg im 21. Jahrhundert, so US-Präsident Biden auf dem G7-Treffen im Juni 2021, und der Startschuss ist gefallen.

Mittlerweile sind im westlichen Militärbündnis fast alle europäischen Staaten vereint. Russland und seinen wenigen Verbündeten stehen nun insgesamt 30 Länder gegenüber, einige in direkter Nachbarschaft. Immer mehr NATO-Truppen sind in ehemaligen Sowjetrepubliken stationiert, viele unweit der russi­schen Grenzen. In riesigen Land- und Marinemanövern wird Jahr für Jahr der Krieg gegen Russland geprobt.

Bereits 2002 trat Washington aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehr­systemen aus, um wieder weltweit solche Systeme errichten zu können. Diese Maßnahme destabilisierte die globale strategische Sicherheitsarchitektur. 2016 stellten die USA in Rumänien und 2018 in Polen Raketenabwehrsysteme auf, die auch als Angriffs­waffen einsetzbar sind und aus russischer Sicht daher den INF-Vertrag über das Verbot nuklearer Mittel­streckenwaffen in Europa verletzen. 2019 kündigten die USA unter Präsident Donald Trump diesen Vertrag und forcieren seither die Entwicklung moderner Mittelstreckenraketen. Die ersten sollen ab 2023 in Europa stationiert werden. Besonders gefährlich ist die Hyperschall-Rakete des Typs Dark Eagle, einer Ent­hauptungsschlagwaffe, die nicht abzufangen ist und von Wiesbaden aus kommandiert werden wird. Insge­samt erhöhten die NATO-Staaten ihre Militärausgaben bis 2021 auf das 18-fache des russischen Militäretats.

Die Bedrohung wuchs aus russischer Sicht massiv, als 2008 die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf die Agenda gesetzt und ihre faktische militärische Integration in die NATO sukzessive vorange­trieben wurde. Der Konflikt wurde heiß, als die Ukraine durch den Putsch 2014 unter westliche Vorherrschaft kam. Die maßgeblichen Kräfte bei dem von den USA und der EU geförderten verfassungs­widrigen Sturz des amtierenden Präsidenten, Wiktor Janukowytsch, waren extrem nationalistische, russophobe bis faschi­stische Kräfte – darunter der NPD-Partner Swoboda – sowohl ideologisch als auch praktisch auf der Straße, in den Sicherheitskräften und den Institutionen. Sie gewannen in der Folge einen dominierenden Einfluss, Der Staatsstreich stieß auf Widerstand in der Bevölkerung, vor allem bei der russischen.

Während die als Reaktion darauf erfolgte Abspaltung der Krim nahezu gewaltfrei verlief, kam es in den anderen überwiegend russischsprachigen Provinzen zu bewaffneten Aufständen. Sie gingen in einen Bürger­krieg über, der zwischen Kiew und den Volks­republiken Donezk und Luhansk bis zum russischen Einmarsch andauerte und mehr als 14.000 Menschen­leben forderte.

Obwohl die ukrainische Regierung das völkerrechtlich bindende Ab­kommen Minsk II unterschrieben hatte, das einen besonderen Autonomiestatus für die abtrünnigen Provinzen innerhalb der Ukraine vorsah, boykottierte sie die Umsetzung – mit westlicher Duldung und Unterstützung. Die ukrainische Armee wurde fortan von den USA und Großbritannien massiv aufgerüstet und nach NATO-Standard ausgebildet.

Für alle Seiten war klar, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine rote Linie bedeutet ‒ und dies unabhängig davon, wer in Moskau regiert. Bedrohlich sind bereits die NATO-Truppen im Baltikum, von wo aus St. Petersburg schon mit Kurz­streckenraketen erreicht werden kann. Mit der Ukraine würde die NATO an eine weitere, 2000 km lange direkte Grenze zu Russland vorrücken. Die Vorwarnzeit für Enthauptungsschläge auf russische Zentren würde durch dort stationierte Mittelstrecken­raketen auf wenige Minuten sinken, während der potentielle Angreifer USA aus 10.000 Kilometer Entfernung vom Kriegsgeschehen agieren kann.

Am 10. November 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine eine neue, offensiv gegen Russland gerichtete Charta der strategischen Partnerschaft, die u.a. den NATO-Beitritt der Ukraine und die Rück­eroberung der Krim als Ziel formuliert. Diese Charta überzeugte Russland davon, so Henri Guaino, führen­der Berater Nicolas Sarkozy in dessen Zeit als französischer Präsident, dass es angreifen muss oder angegriffen wird.

Moskau unternahm im Dezember 2021 einen letzten Versuch, die Bedrohungslage durch vertragliche Ver­einbarungen zu entspannen. Die russischen Vertrags­vorschläge enthielten die fünf Kernforde­rungen:

  • Keine weitere Erweiterung der NATO nach Osten

  • Rückbau der militärischen NATO-Präsenz auf den Stand der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation (NATO-Russland-Grundakte) von 1997

  • Truppenreduzierung beiderseits der Grenze in einer gemeinsam festzulegenden Breite

  • Keine Stationierung von Atomwaffen außerhalb der nationalen Territorien (also auch keine nukleare Teilhabe)

  • Keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa

Diese Forderungen sind aus friedenspolitischer Sicht unterstützenswert. Sie wurden aber von den USA und der NATO Anfang Februar brüsk und ohne jegliche Diskussion darüber abgelehnt. Die russische Regierung zeigte sich trotzdem verhandlungsbereit, kündigte in ihrer Antwort vom 17. Februar 2022 allerdings unmissverständlich an, sich bei Ausbleiben von Sicher­heitsgarantien genötigt zu sehen, auch mit militär-technischen Maßnahmen zu reagieren.

Gleichzeitig nahmen laut OSZE Angriffe der ukraini­schen Armee, die bereits ihre Hauptstreitmacht im westlichen Donbass für eine Offensive konzentriert hatte, auf die Donbass-Republiken massiv zu, sodass diese damit begannen, Menschen nach Russland zu evakuieren.

Am 21. Februar erkannte Moskau die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken an. Drei Tage später begann die russische Armee gemeinsam mit den Truppen der Volksrepubliken ihre Offensive gegen die ukrainischen Truppen im Donbass und darüber hinaus entlang der Schwarzmeerküste und im Nordosten der Ukraine, um so die Offensive der ukrainischen Armee zurückzu­schlagen.

Die russische Regierung rechtfertigt ihren Krieg u.a. als kollektive Selbst­verteidigung gegen den bevorstehen­den Angriff der ukrainischen Truppen auf die Donbass-Republiken, mit denen sie sofort nach ihrer Aner­kennung ein entsprechendes Hilfsabkom­men unter­zeichnet hatte.

Diese Argumentation ist völkerrechtlich nicht haltbar, weil ein Ruf einer Volksgruppe nach militärischer Hilfe von außerhalb – so verständlich er auch sein mag – keinen Staat zum militärischen Eingreifen berechtigt. Dies könnte nur der UN-Sicherheitsrat autorisieren.

Bei der völkerrechtlichen Argumentation darf aber nicht vergessen werden, dass dem russischen Völker­rechtsbruch andere vorrausgingen, wie die Verletzung der ukrainischen Souveränität durch die Förderung des Putsches 2014, die eklatante Missachtung des verbind­lichen Minsker Abkommens und die Stationierung von NATO-Truppen an den russischen Grenzen.

Der russische Präsident begründete den Einmarsch ins Nachbarland auch mit der Bedrohung durch künftige ukrainische Atomwaffen. Dies ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Ukraine hat sich im Budapester Memorandum 1994 gemeinsam mit Weißrussland und Kasachstan verpflichtet, die auf seinem Territorium lagernden Atomwaffen an Russland abzugeben und in Zukunft keine anzu­schaffen oder zu stationieren. Im Gegenzug erhielten sie von Russland, den USA und Großbritannien Sicher­heitsgarantien.

2000 hat das ukrainische Parlament aber ein Gesetz verabschiedet und 2015 konkretisiert, das anderen Staaten zeitlich begrenzt die Stationierung von nuklea­ren Waffen unter gewissen Voraussetzungen erlaubt. Die Ukraine produziert zudem bereits in ihren AKWs waffenfähiges Material. Allein im AKW Saporoschje sammelte sie laut besorgten Aussagen des Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Rafael Grossi, 40 kg Uran und 30 kg Plutonium an.4 Seit März 2021 weigert sich Kiew, diese nach Russland zur Wiederaufarbeitung auszuführen und verweigert der IAEA die Aufsicht darüber. Dadurch ist unklar, ob sich dieses nukleare Material noch dort befindet oder ob etwas zum Verkaufen oder zum Bau einer schmutzigen Bombe abgezweigt wurde.

Präsident Selenskij hat schließlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 seine Forderung nach einem klaren Zeitrahmen für den NATO-Beitritt der Ukraine mit der Drohung der Kündigung des Budapester Memorandums verbunden. Einige namhafte Experten, wie der Politologe Robert Wade von der London School of Economics, vermuten, dass diese Rede der letzte Anlass für das Umschwen­ken der russischen Führung auf einen Kriegskurs gewe­sen sei.5

Bei der Erläuterung der Gründe geht es nicht um eine Rechtfertigung des Krieges, sondern darum, seine Hintergründe und seine Entstehung mög­lichst genau aufzuzeigen. Aus ihnen lassen sich realistische Ansätze für eine politische Lösung des Konfliktes ableiten.

Deutschland im Krieg

Mit der Lieferung von Waffen sind Deutschland und seine NATO-Verbündeten recht schnell in den Krieg eingetreten. Die NATO eskaliert den Krieg seither immer weiter, angeführt von den USA und Groß­britannien. So rief die US-Regierung Ende April die Minister aus 40 Ländern zu einem Kriegsrat auf ihrer Air Base Ramstein in der Pfalz zusammen, um die Verbündeten auf noch stärkere militärische Unter­stützung der ukrainischen Streitkräfte einzu­schwören. Auch die deutsche Regierung ließ sich nun zur Lieferung von schweren Waffen verpflichten. Eine patriotische Mehrheit im Bundestag hat dies umgehend, zusammen mit der Ankündigung eines gigantischen Aufrüstungsprogramms, abgesegnet ‒ nur drei Tage nachdem Kanzler Scholz seine Befürchtung geäußert hatte, schwere Waffen würden die Gefahr eines dritten Weltkrieges erhöhen.

Damit, und durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten an modernen Waffen, wurde ‒ wie die Wissen­schaftlichen Dienste des Bundestags bestätigen – Deutschland eindeutig auch im völkerrechtlichen Sinne zur Kriegspartei. 81 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden wie­der deutsche Panzer russischen gegen­überstehen – ein historischer Tabubruch, der nicht im Einklang mit dem Grundgesetz und seinem Friedens­gebot steht. Die Kriegshysterie erinnert an 1914.

Gefahr eines großen Krieges

Die Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen führen nur zur Verlängerung des Krieges, zu mehr Opfern und zu größeren Zer­störungen.

Moskau muss um jeden Preis besiegt werden, so die Parole, und mit der massiven militärischen Unter­stützung feuert man die ukrainische Regierung an, keinerlei Zugeständnisse bei Verhandlungen über eine Feuerpause und einen Waffenstillstand zu machen.

Auch wenn der Widerstand der ukrainischen Streitkräften bisher stärker war als erwartet, werden diese jedoch nach Ansicht der meisten hochrangigen NATO-Militärs und -Experten auch mit neuen und effektiveren Waffen die russischen Truppen nicht zurückschlagen können.6 Sie könnten aber ‒ so das tatsächliche westliche Kalkül ‒ Russland eventuell in einen längeren zermürbenden Krieg verwickeln. NATO-Falken verweisen dabei gerne auf das Beispiel Afghanistan. Dies wäre ein Horrorszenario nicht allein für die Ukraine, sondern auch für das übrige Europa.

Je länger der Krieg dauert, desto mehr wächst auch die Gefahr einer Ausweitung des Krieges hin zu einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation, bei der sich Atom­mächte gegenüberstehen. Unkalkulierbare, existen­zielle Risiken für ganz Europa bergen zudem auch die 15 Atomreaktoren, die in der Ukraine am Netz sind.

Verhandlungslösung vom Westen blockiert

Wenn die Ursachen des Krieges zur Kenntnis genommen werden, liegen die zentralen Ansätze für ein rasches Ende des Blutvergießens und für eine längerfristige politische Lösung des Konflikts auf der Hand.

Bei den Verhandlungen in Ankara lag das, was Moskau verlangte und das, worüber Selenskij sich bereit erklärt hatte zu reden, schon nahe beieinander. Die im März anfänglich von Präsident Selenskij ins Gespräch gebrachten Angebote ‒ Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ schienen eine reelle Chance für politische Lösungen und eine baldige Waffenruhe zu bieten.

Doch Washington und London blockierten.7 Sie drängten Kiew offen, keinerlei Kompromisse einzu­gehen und verstärkten gleichzeitig ihre militärische Unterstützung. Auch die EU arbeitete faktisch gegen eine Verständigung Kiews mit Moskau.

Als Selenskij am 25.2. seine Bereitschaft erklärte, mit Russland über einen Neutralitätsstatus und über Sicherheitsgarantien zu verhandeln, reagierte Brüssel mit der Zusage von Waffenlieferungen für 450 Mio. Euro, und als er Russland in öffentlichen Ankün­digungen noch deutlicher entgegenkam, wurden der Ukraine weitere Waffen im Wert von 500 Millionen Euro angedient.

Aber selbst wenn die ukrainische Regierung wollte, ohne aktive Unterstützung des Westens ist ihr innen­politischer Spielraum gegenüber den dominierenden rechtsextremen Kräften gering. Sie bedrohen offen jeden mit dem Tod, der sich zu Zugeständnissen bereit erklärt.8

Auch in diesem Krieg wird die Berichterstattung von Kriegspropaganda dominiert. Berichte über Gräuel und mutmaßliche Kriegsverbrechen kommen von beiden Seiten ‒ wahrgenommen werden jeweils aber nur die Meldungen über die Verbrechen der anderen Seite. Verifizieren lassen sie sich in der Regel nicht, wirklich glaubwürdige, unabhängige Unter­suchungen blieben bisher aus. Vorsicht ist stets angesagt, da es starke Kräfte in der Ukraine und im Westen gibt, die ein direkteres Eingreifen der NATO erwirken wollen.

Gräueltaten werden mit Sicherheit begangen, von beiden Seiten ‒ das gehört zum Wesen eines Krieges. Der einzige Weg sie zu verhindern ist, alles zu tun, um die Kampfhandlungen so schnell wie möglich zu stoppen.

Schritte zur Deeskalation und zum Frieden

Allein mit Appellen an Moskau, seine Truppen zurückzuziehen, wird man ein Ende der Kämpfe nicht erreichen. Wer sie konträr zu jeglicher Konflikt­lösungslogik zur Vorbedingung für Verhandlungen macht, will nicht verhandeln. Die Führung der Atommacht Russland hat die enormen Kosten des Einmarschs nicht in Kauf genommen, um ihre Erfolge in einem Konflikt, bei dem es ihrer Sicht nach um existenzielle Interessen geht, ohne substantielle Zugeständnisse preiszugeben.

Man muss den Krieg vom Ende her denken, stellte der ehemalige militärische Berater von Angela Merkel, Brigadegeneral a.D. Erich Vad, Mitte April treffend fest. Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.

Er warnte zudem davor, den russischen Präsidenten Wladimir Putin als krankhaften Despoten abzu­stempeln, mit dem man nicht mehr reden könne. So völkerrechtswidrig und furchtbar der Ukraine-Krieg sei, er stehe doch in einer Kette vergleichbarer Kriege jüngeren Datums. Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan – so neu ist das alles nicht. 9

Schließlich muss der Westen beginnen, über den Krieg hinaus zu schauen, um eine Beziehung zu Russland zu retten, die die Tür für ein Mindestmaß an Zusammenarbeit offen hält, so Prof. Charles Kupchan vom einflussreichen US-amerikanischen Council on Foreign Relations (CfR). Selbst wenn sich ein neuer Kalter Krieg anbahnt, wird der Dialog noch wichtiger sein als während des Kalten Krieges 1.0. In einer stärker voneinander abhängigen und globalisierten Welt wird der Westen zu­mindest ein gewisses Maß an pragmatischer Zusammenarbeit mit Moskau benö­tigen, um gemeinsame Herausforderungen zu bewäl­tigen, z. B. Verhandlungen über die Rüstungs­kontrolle, die Eindämmung des Klimawandels, die Verwal­tung der Cybersphäre und die Förderung der globalen Gesundheit. Zu diesem Zweck ist eine rasche Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung bei weitem besser als ein Krieg, der sich in die Länge zieht, oder ein neuer ein­gefrorener Konflikt, der in einer feindlichen Pattsituation endet. 10

Zunächst muss über substantielle Verhandlungs­angebote ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht werden, um Zeit für Verhandlungen zu schaffen.

Folgerichtig sehen die italienischen Vorschläge vom 21. Mai als erstes Vereinbarungen über lokale Kampfpausen vor, danach über einen dauerhaften Waffenstillstand und Entmilitarisierung der Front­linie.11 Diesen soll dann eine internationale Konferenz über einen zukünftigen neutralen, durch Schutz­garan­tien abzusichernden Status der Ukraine folgen.

An einer Verpflichtung zur strikten Neutralität der Ukraine, wie sie zwischen 1991 und 2014 in der ukrainischen Verfassung verankert war, führt kein Weg vorbei. So bitter dies angesichts militärischer Gewalt auch für Kiew sein mag, eine neutrale Ukraine war schon immer im Interesse aller, die Frieden in Europa anstreben. Die ukrainische Regierung hat prinzipiell auch schon ihre Bereitschaft dazu erklärt. Strittig ist aber noch, wie weit vertraglich vereinbarte Sicherheiten gehen und von welchen Staaten sie garantiert werden. Die ukrainische Neutralität muss Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheits­abkommens zwischen dem Westen und Russland werden.

Selbst führende Vertreter des geopolitischen Establish­ments raten Kiew zudem, auch die Abspaltung der Krim zu akzeptieren.12 Da diese unstrittig dem Willen der Mehrheit ihrer Bewohner:innen entspricht, könnte sie ohnehin nur mit Gewalt, um den Preis eines neuen Bürgerkrieges, revidiert werden.

Vermutlich erst im letzten Schritt könnten die Verhandlungen über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken und anderer mehrheitlich russisch-sprachiger Gebiete folgen und damit auch über den Rückzug russischer Truppen. Eine Lösung könnte eine sehr weitgehende Auto­nomie innerhalb der Ukraine sein, mit eigenen Sicherheitskräften und Russland als offizieller Schutzmacht, ähnlich wie Österreich für Südtirol. Ob am Ende die Autonomie einiger Provinzen stehen wird oder ihre Abspaltung, wird von Zugeständnissen der NATO bzgl. berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands abhängen. Italiens Friedensplan sieht daher auch ein multilaterales Abkommen über Frieden und Sicherheit in Europa vor. Waffen­stillstand und Verhandlungsfortschritte müss­ten mit der Aufhebung westlicher Embargo­maß­nahmen einhergehen.

Die Redaktionskommission (Editorial Board) der New York Times empfahl in ihrem viel beachteten Leitartikel vom 19. Mai den USA und ihren Verbün­deten, der ukrainischen Regierung die Grenzen ihrer Unterstützung aufzuzeigen und sie zu einer realisti­schen Einschätzung ihrer Mittel zu drängen: Die Konfrontation mit dieser Realität mag schmerzhaft sein, aber sie bedeutet keine Beschwichtigungspolitik. Dies ist die Pflicht der Regierungen, und nicht einem illusorischen ‚Sieg‘ hinterherzujagen.

Nein zu Wirtschaftsblockaden

Mit den Embargomaßnahmen von beispiellosem Umfang, die die NATO-Staaten und ihre engsten Verbündeten gegen Russland verhängten, wird inter­nationales Recht weiter beschädigt. Umfas­sende Wirtschaftsblockaden treffen immer zuallererst die ärmeren Bevölkerungsschichten, nicht nur die in Russland, sondern in der ganzen Welt. Sie haben noch nie einen Krieg beendet, aber schon zig Millionen Menschen in vielen Ländern ins Elend gestürzt.

Vor allem im Nahen Osten sowie in großen Teilen Afrikas drohen demzufolge neue Hungersnöte, die nach UN-Angaben das Leben von Millionen Menschen gefährden. Auch in Europa sind es in erster Linie die sozial Benachteiligten, die unter den steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel leiden. Während Rüstungskonzerne und westliche Lieferanten mit fossiler Energie Milliardengeschäfte machen, werden die Kosten den unterprivilegierten Menschen auf­gebürdet, die mit erheblichen Preissteige­rungen für Lebensmittel und Energie fertig werden sollen.

Die meisten nichtwestlichen Staaten verurteilen zwar den russischen Einmarsch in der Ukraine, lehnen den Wirtschaftskrieg aber entschieden ab. Sie verweisen auf die Kriege und eklatanten Völkerrechts­verletzungen der USA und NATO, die noch nie zu solchen Reaktionen führten. Sie protestie­ren dagegen, dass die USA und die EU keine Anstrengungen unternehmen, den Krieg in Europa zu stoppen, der zusammen mit den Blockaden ihre Länder in Mitleidenschaft zieht.

Quelle: Bundesausschuss Friedensratschlag

FriedensbewegungUkraine